Schule des Rades

Leo Frobenius

Paideuma

I. Paideumatische Studien

3. Dichten

Als wesentliches Ergebnis der im Jahre 1894 abgeschlossenen Arbeiten über die Mythologie (Zeitalter des Sonnengottes) blieb mir die Frage: Wie entstehen Fabeln, Mythen, Dichtungen?

Wir hochmütigen Söhne des mechanistischen Nordens machen uns die Antwort meist nur allzu bequem. Wir nehmen einfach die Phantasie in Anspruch und füllen derart, wie so häufig, die Lücke unserer Kenntnis mit einem Worte, mit leerem Schall. Typisch ist jenes kleine Erlebnis, das ich in den Schwarzen Seelen (S. 5 ff.) geschildert habe und das hier kurz wiederholt sei: Ein alter, erfahrener Missionar leugnete bei meinem Eintreffen in seinem Arbeitsfeld das Vorhandensein wertvoller Volkserzählungen in seiner Umgebung. Als ich ihm nach mehrwöchigem Aufenthalt einige gute, dort gesammelte Sachen vorlas, rief er aus tiefer Verblüffung heraus: Das haben die Kerle Ihnen einfach vorgelogen. In der darauffolgenden Unterhaltung gab der alte Herr dann allerdings zu, dass Europäer und zwar sowohl Bauern wie Städter, nicht imstande gewesen wären, einen solchen Reichtum wohlgegliederter Erzählungen in so kurzer Zeit zu erfinden. Ferner musste er notgedrungen einräumen, dass die eigentlichen Mythen der Eingeborenen, ihrer engen Erfahrungswelt entsprechend, außerordentlich ärmlich an Formen und an Sinn seien, so dass also die Phantasie auch hier sich nicht recht nachweisen lasse. Blieb also auch zuletzt für ihn, den Alterfahrenen, nur noch die Möglichkeit, zuzugeben, dass hier ein Grundstock von Überlieferungen aus fernen Zeiten und Gebieten vorliege.

Die echten Fabeln, Mythologien, Märchen tauchen als Vollendete, als Erbgut aus alter Zeit empor. Andersen und Hauff sind Dichter, und ihre Märchen haben mit jenen Volksfabulieren weiter nichts gemeinsam als sinnliche Fläche und Außenform des Wortes. Niemals mehr wird irgend jemand von uns imstande sein, ein Märchen jener Art zu erfinden, wie es wohl noch vor einem Jahrhundert jede bäuerliche Großmutter atemlos lauschenden Kindern erzählen konnte, und — noch mehr — unsere Kinder selbst erleben nicht einmal mehr den tiefen Geist dieser atemlosen Spannung. Denn sie lesen die Märchen. Sie kauern nicht mehr neben dem Spinnrade einer selbst vom Märchenzauber ergriffenen Alten, und wenn eine liebe Tante oder ein guter Onkel ihnen Märchen erzählen, so tun sie es nebenbei und sprechen von etwas, was abseits ihres Lebensinteresses just noch gedächtnismäßig erhalten ist; das sind dann Märchen, die bei den Menschen unserer Tage neben allerhand anderem Wissen aus Zeitungen und modernen Büchern zur Zerstreuung dienen. Ich spreche hier aus eigenster Erfahrung; denn ich hatte in meiner Kindheit noch eine Olsche, zu deren Füßen hockend ich im Dämmerlicht miterlebte, was sie, die gute Alte, noch mit dämonischer Zauberkraft erfüllte. Und es ist eine kümmerliche Erkenntnis, dass ich selbst trotzdem nicht mehr Gleiches, weitergeben kann. Was die Brüder Grimm von ihrer berühmten Olschen hörten, besitzen wir eigentlich gar nicht. Wir lesen die Märchen vor. Ja, wir können nicht einmal mehr erzählen. Wir gehen in literarische Vorträge. Der Vortrag ist an die Stelle der Erzählung getreten. Eine lebendige Zauberwelt ist vergangen, eine Welt, die doch auch nur wieder ein Mit- und Nacherleben übernommenen Altvätergutes war. Wir ahnen gerade noch den Zauber jener Erlebnisse, die wie Schatten am Horizonte vorübergeglitten sind. Die Periode dieses Nacherlebenkönnens ist vorbei. Wie, so frage ich nun, muss der fabelhafte Schöpfungsrausch der Entstehungsperiode gewesen sein?!

Das Aussterben der lebendigen Märchenwelt habe ich also daheim selbst noch miterlebt. Die Geburtszeiten sollten nunmehr in Afrika aufgesucht werden. Ich trat die erste Reise an, erfüllt von großen Hoffnungen. Mit Sorgfalt ward ein Gebiet ausgewählt, in dem die verschiedenen Völkertypen dicht nebeneinander lebten. Der Anfang war recht enttäuschend. Die rauhen, kannibalischen Stämme am Kuilu (westl. Kassai) lebten im Zeichen ständiger Fehde Dorf gegen Dorf. Ihre gesamten geistigen Interessen gruppierten sich um Milonga (Rechtsstreitigkeiten) und Zaubermittel. Alte Leute gab es kaum. Jeder, dessen Haare zu ergrauen begannen, wurde eines frevelhaften Kannibalismus angeklagt, wurde zum Giftordal verurteilt, verfiel somit regelrecht dem Tode und — wurde verspeist. Es war klar: der Kuilu war kein Gebiet geistiger Neubildungen und demnach gelang es auch nicht, mehr als einige wenige, dazu noch schlecht erhaltene Fabelbruchstücke zu gewinnen, die als letzte dürre Blätter gerade noch Form genug besaßen, um damit ihre Herkunft zu verraten, die aber jede Spur ihrer Entstehung bereits eingebüßt hatten.

Etwa 300 Kilometer weiter im Osten (mittl. Kassai), im Grenzgebiet der düsteren, schweigsamen Bakuba und der wandernden, fröhlichen Baluba waren günstigere Verhältnisse; zumal diese handelslustigen Baluba vermochten allerhand recht gut erhaltene Stücke zu erzählen. Damit Belohnungen nicht gekargt wurde, verbreitete sich die Nachricht von dem angenehmen Geschäfte, das mit Märchenerzählen zu machen sei, alsbald im Lande und zog allerhand fabelkundiges Volk zusammen. (Im Schatten des Kongostaates S. 97.) Hier trat nun Wesentliches über die Urform des Dichtens hervor: Tierfabeln wurden auch bei Tage erzählt, Märchen dagegen lieber im Dämmerlicht oder am glimmenden Herd- und Lagerfeuer. Der Stoff selbst, wenn echt, wurde wörtlich nach der Überlieferung wiedergegeben, und wenn ein Erzähler irgendwelche neuen, d. h. falschen Worte setzte, so geschah es häufig, dass Umsitzende ihn verbesserten. Das Wörtliche spielte also eine bedeutsame Rolle. Noch wichtiger waren aber die Geste und die Betonung, Guten Erzählern war die szenische Wiedergabe bedeutungsvoller als das eigentlich Ausgesprochene. Das Wichtige dieser Zweiseitigkeit wurde besonders klar, als ich eines Tages einen soeben empfangenen Bericht wiederholte und der Erzähler rundweg erklärte, solches nicht erzählt zu haben. Eine eingehende Nachprüfung ergab, dass der Sinn des Szenenmäßigen (also der Geste und der Betonung im Vortrage) ein wesentlich anderer war, als der der einfachen Worte an sich. Schon damals lernte ich, dass eine wörtliche Übersetzung dem Bedeutungswert der Originale nicht entspricht. Es fehlt ihr das Lebendige, die Seele. Deshalb sind wörtliche Aufzeichnungen solcher Dichtungen in der Originalsprache wohl von einem großen linguistischen Werte, bedeutungsvoll auch für das Studium des Motivgehaltes und wörtliche Übersetzungen von einem für Stoff und Form entwicklungsgeschichtlichen Werte; beide entbehren aber der paideumatischen Bedeutung in Sinne dieses Buches. Wörtliche Übersetzungen verhalten sich zur Dichtung selbst in einem Sinne, der uns Europäern längst abhanden gekommen ist, fast wie ein Notenblatt zum wirklichen Liede. Da also der eigentlich lebendige paideumatische Wert einer Dichtung durch wörtliche Übersetzung zerstört wird, so ist für deren Wiedergabe und Erhaltung eine andere Art der Mitteilung nötig, die am besten mit einer seelischen Wiedergeburt verglichen werden kann. Dieser Vorgang beruht im Erlebnis des Vortragenden, fordert vom Hörer und also Zuschauer eine Intuition und drückt die Bedeutung des Wortgebrauchs an sich (Sprache) auf die eines automatisch verwerteten Hilfsmittels herab.

Einer der Missionare des Luluaburgbezirkes bemühte sich, den Kindern so nebenbei die französische Sprache zu lehren. Er hatte hierzu einige französisch geschriebene Fabeln des Äsop in die Balubasprache übersetzt und ließ die Kinder an der Hand dieser Niederschriften erst die balubische, dann die französische Version auswendig lernen. Nun sind einige dieser Äsopfabeln denen der Baluba sehr ähnlich. Man sollte bei der diesen Stämmen angeborenen Erzählerlust annehmen, dass dieser doch den Leuten so recht verständliche Stoff sich ohne weiteres unter das alte Märchengut gemischt hätte. Aber nichts davon! Eine ganze Reihe von Leuten kannten diese Mukanda na M’Putu (Bezeichnung für europäische Schriftstücke). Mehrere Male hatte ich Gelegenheit, das große Interesse, das diese Mukanda hervorgerufen hatten, festzustellen. Als einige kluge Leutchen nun aber eines Tages befragt wurden, ob sie unsere europäischen Tuschimuni (Erzählungen) nicht auch so schön fänden, wie ihre eigenen, fragten sie ganz erstaunt, ob wir in Europa denn auch Tuschimuni hätten? Beim Hinweis auf die äsopischen Fabeln (ihre Mukanda) lachten sie: Das seien doch keine Tuschimuni, das seien Mukandasachen. Nunmehr, nach dem Unterschiede der eigenen Erzählungen befragt, brachten sie folgende herrliche Antwort zum Vorschein:

In den Tuschimuni leben Gabuluku (kleine Antilope, die dort die Rolle unseres Reinecke Fuchs spielt), Ngulu (Wildschwein), Kaschiama (Leopard). Wenn Tuschimuni erzählt werden, sprechen Gabuluku, Ngulu und Kaschiama. In den Mukandasachen wird dagegen nur gesagt, was sie einmal getan haben, was früher einmal mit ihnen war. Tuschimuni sind alle Tage, sie sind gestern, heute, morgen; Mukandasachen sind dagegen einmal gewesen, Mukandasachen sind tot. Einer der Baluba zeigte auf einen vor der Hütte liegenden Elefantenschädel und sagte: Der Nsevu (Elefant) da ist tot. Er lebt nicht mehr. Er kann nicht mehr leben. So sind Mukandasachen. Die Tuschimuni aber sind so lebendig, wie die Nsevu, die jede Nacht nach Galikoko kommen und jede Nacht dort die Manjokfelder abfressen. Mukandasachen sind tote Knochen. Tuschimuni sind lebendiges Fleisch.

Der schroffe Gegensatz, den diese schlichten, aber so außerordentlich zum Erleben fähigen Eingebornen hier feststellten, ist von hoher Bedeutung. Der gute Baluba hat mit seinen Worten den Unterschied zwischen mündlicher und schriftlicher Überlieferung so glänzend erkannt und beschrieben, dass ich es nicht besser könnte.

Schrift und Wissen gehören im Sinne dieses Buches zur Welt der Tatsachen, die mit dem lebendigen Vererben und mit dem Erleben nichts zu tun haben. Ein Musiker dagegen, der eine Beethovensche Sonate vorträgt, versenkt sich in genau die gleiche Welt des Dämonischen, wie das alte bäuerliche Mütterchen, das den Kindern ein Märchen erzählt.

Diese eine Erfahrung lehrt also, dass jene oft so wenig beachteten Afrikaner dem dämonisch-intuitiven, Begreifen der paideumatischen Grundlage näherstehen als wir Menschen einer vom Intellekt beherrschten Zivilisation, denen diese Grundlagen durch Unmassen objektiver und also seelenloser Tatsachen verschüttet sind.

Solche Beobachtungen führen dem eigentlichen Wesen der Fabelbildung wohl näher, ohne aber zunächst ihre tiefsten Wurzeln sichtbar werden zu lassen. Vielmehr stellte sich nun eine Schwierigkeit ein, eine eigentümliche Variabilität in der Komposition vieler Märchen, Fabeln und Legenden. Ich bemerkte, dass bestimmte Teile und Motivfolgen bald in diesem, bald in jenem Zusammenhang erschienen. Ja, es war zuletzt möglich, ganze Geschichten als eine Art Mosaikarbeit von lauter aus verschiedenen Erzählungen übernommenen Einzelteilen zu erkennen. Ähnliche Beispiele bieten auch die deutschen Märchen; nie erscheinen sie aber gelesen so typisch, wie erzählt. In späteren Jahren machte ich in Nord- und Ostafrika gleiche Beobachtungen. Die komponierte Mosaikfabel entbehrt des organischen Lebens. Es ist also auch schon in der primitiven Erzählerkunst sowohl eine organische, als eine anorganisch gewordene Schicht nachweisbar.

Damals führte der weitere Weg mich wieder nach Osten. Das Gebiet der Benalulua, von denen im 14. Kapitel mehr erzählt wird, ward erreicht. Wir lagerten eines Tages in Kapulumba. Nach dem Abendessen rief ich einen Jungen. Kein Junge war da. Ich ging in das nahe Dorf der Baqua Tembo; dort war alle Welt vor einem Hause versammelt. Auch unsere Leute waren darunter. Ich fragte, was es gäbe. Ja, da wäre ein junger Mann gestorben, der sei der letzte Sohn des alten Kabamba gewesen. Der alte Kabamba sei nun ganz unglücklich. Der alte Kabamba sage seinen Schmerz. Ich trat möglichst ungesehen zwischen den Hütten näher. Ein alter Mann saß neben der Leiche; es war der alte Kabamba. Alles schwieg. Nur der Alte schrie laut unter Tränen. Er schrie von sich und seinem Verlust. Er sagte nicht ich, er sprach von Kabamba. Das Leid, das er erfahren hatte, kam in einer tieftraurigen Klage zum Ausdruck. Diese Klage wiederholte er immer wieder. Hier nun die Wiedergabe:

Die Frage nach den Toten

Kabamba, ein Mann, hatte zehn Kinder. Alle zehn Kinder starben. Kabamba klagte alle Tage: Wo sind meine zehn Kinder? Kakaschi Kakullu hörte es. Kakaschi Kakullu fragte: Was willst du? Kabamba sagte: Wo sind meine zehn Kinder? Kakaschi Kakullu sagte: Geh in die Mitte der Straße, dann kannst du es erfahren. Kabamba ging aus dem Dorfe in die Mitte der Straße. Er hörte einen Mann kommen. Es war der Abend. Kabamba fragte: Wo sind meine zehn Kinder? Der Abend sagte: Ich bin der Abend. Er ging vorüber.
Kabamba sah einen Mann kommen. Es war die Plauderstunde. Kabamba fragte: Wo sind meine zehn Kinder? Die Plauderstunde sagte: Ich bin die Plauderstunde. Er ging vorüber.
Kabamba hörte einen Mann kommen. Es war der feste Schlaf. Kabamba fragte: Wo sind meine zehn Kinder? Der feste Schlaf sagte: Ich bin der feste Schlaf. Erging vorüber.
Kabamba hörte einen Mann kommen. Er war der unruhige Schlaf. Kabamba fragte: Wo sind meine zehn Kinder? Der unruhige Schlaf sagte: Ich bin der unruhige Schlaf. Er ging vorüber.
Kabamba hörte einen Mann kommen. Es war die Morgendämmerung. Kabamba fragte: Wo sind meine zehn Kinder?
Die Morgendämmerung sagte: Ich bin die Morgendämmerung. Er ging vorüber.
Kabamba hörte einen Mann kommen. Es war der Morgen. Kabamba fragte: Wo sind meine zehn Kinder? Der Morgen sagte: Ich bin der Morgen. Er ging vorüber.
Kabamba ging in sein Dorf zurück. Er sagte zu Kakaschi Kakullu: Ich habe sie alle gefragt: Wo sind meine zehn Kinder? — und keiner hat mir eine Antwort gegeben. Kakaschi Kakullu sagte: Das ist deine Schuld. Denn wenn du Antwort auf deine Frage haben willst, so musst du die Leute packen und festhalten. Sonst antwortet dir niemand, wenn du fragst: Ich zeugte zehn Kinder, meine zehn Kinder starben, wo sind meine zehn Kinder? — Siehe, es geht alles vorüber wie der Abend, die Plauderstunde, der feste Schlaf, der unruhige Schlaf, die Morgendämmerung, der Morgen. Deine Kinder sind auch vorübergegangen.

Im Gebiet der gleichen Bena Lulua traf ich eines Tages eine alte Frau, die sammelte im Busch Früchte. Die Leute sagten von ihr: Gulauka kakesse (sie ist ein wenig irrsinnig). Wieso das? Die Frau soll es selbst erzählen. Sie wurde gerufen und erzählte die kurze Geschichte, die ich nachfolgend wiedergebe.

Nähere Erkundigungen ergaben, dass diese Alte vor noch nicht langer Zeit an dem Tage, an dem ihre letzte Hoffnung, mit einem alten Manne zusammen ihr Lebensende gemeinsam zu verbringen, durch häßliche Redereien zerstört wurde, in Klagen ausgebrochen wäre, dass sie an diesem Tage zum erstenmal die nachfolgende Geschichte erzählt hätte, dass sie aber dann beim ständigen Wiederholen dieser Erzählung um ihren Verstand gekommen sei. Die nachfolgend wiedergegebene Erzählung selbst verbreitete sich sehr schnell und als ich einige Monate später von Osten her mich wieder dem Kasai näherte, war sie dort schon in aller Mund.
Die Erzählung lautet:

Das Klatschgespenst

Eine Frau suchte in der Ebene Heuschrecken. Sie war auf einem Auge blind und hatte keine Zähne. Es war eine alte Frau. Ein Mann kam über die Ebene. Er hatte ein Glied, aber kein Skrotum. Der Mann sagte zu der Frau: Wo gehst du hin? Die Frau sagte: Ich gehe in mein Dorf diesseits. Wo gehst du hin? Der Mann sagte: Ich gehe in mein Dorf jenseits. Sie gingen ein Stück über die Ebene. Sie kamen an einen großen Baum. Der Mann sagte: Ich möchte dich heiraten. Die Frau sagte: Es ist mir recht. Der Mann sagte: Dann wollen wir morgen mittag hier wieder zusammenkommen. Was bringst du mit? Die Frau sagte: Es ist gut. Wir wollen morgen mittag wieder unter diesem Baume zusammenkommen. Ich bringe Mehlbrei und Fleisch mit. Der Mann sagte: Es ist gut, und ich bringe zwei Kalebassen mit Palmwein mit. Sie gingen auseinander.
Am andern Tage wollten der Mann und die Frau sich auf den Weg machen. Ein Klatschgespenst ging um. Das Klatschgespenst ging zu dem Manne und sagte: Die Frau hat gesagt, sie wolle dich doch nicht heiraten, weil du kein Skrotum hast. Der Mann ging nicht zu dem Baume in der Ebene. Er blieb zu Hause. Das Klatschgespenst ging zu der Frau und sagte: Der Mann hat gesagt, er wolle dich nicht heiraten, weil du keine Zähne hast und nur ein Auge. Die Frau ging nicht zu dem Baume in der Ebene.
Beide blieben zu Hause. Sie heirateten sich nicht, weil ein Klatschgespenst umging.

Unter den mit Bena Lulua stark gemischten östlichen Bakuba habe ich hauptsächlich Stammessagen aufgezeichnet. In diesen spielte ein Zwist, der sich zwischen zwei Familien ausgetobt hatte, eine große Rolle. Der Streit hatte begonnen mit einem Anspruch auf ein Jagdrecht; er hatte geendet mit dem Abbruch aller Beziehungen zwischen zwei Dörfern, so dass der sie verbindende Weg zuletzt vollkommen verwachsen war. Nun erzählten die Leute, es gäbe dazu auch eine Tuschimuni. Die Erzählung wurde vorgetragen und lautete folgendermaßen:

Der gefangene Weg

Der Vater und der Sohn gingen in den Wald, um Fallen zu stellen. Sie kamen über einen Weg, den viele Menschen gegangen sein mussten. Der Sohn sagte: Ich will hier meine Fallen stellen. Der Vater sagte: Lass, das ist ein Weg der Menschen. Der Sohn sagte: Ich tue es doch. Der Sohn setzte seine Falle an diesen Ort. Am andern Tage fand der Sohn den Bruder seiner Mutter in der Falle. Er rief: Mein Vater! Ein Tier! Der Vater rief: Was für ein Tier? Der Sohn sagte: Der Bruder meiner Mutter! Der Vater sagte: Ich habe es dir ja gesagt. Nun lass den Bruder deiner Mutter frei und stelle deine Falle nicht wieder dort auf!
Der Sohn hörte nicht. Er stellte seine Falle wieder dort auf. Am andern Tage hatte er den Vater seines Vaters, am dritten Tage seine Mutter in der Falle.
Am fünften Tage hatte der Sohn den Weg selbst gefangen. Der Vater sagte: Lass ihn laufen! Wenn du ihn nicht laufen lässt, finden wir nicht in das Dorf zurück. Der Sohn hörte nicht. Er nahm den Weg, rollte ihn zusammen und steckte ihn in den Sack, Den Sack nahm er auf den Rücken. Als er aber mit dem Vater nun weitergehen wollte, konnten sie nichts sehen als Büsche, Sie fanden das Dorf nicht wieder. Endlich warf der Sohn die Last auf die Erde. Sofort sprang der Weg auf und lief in das Dorf, Sohn und Vater liefen hinterher. Im Dorfe erwischte der Sohn den Weg, Die Leute sagten: Jetzt gehört der Weg dem Sohne, denn er hat ihn gefangen. Der Sohn sagte: Es ist gut. Das ist mein Weg und niemand darf ihn gehen! — Darauf ging niemand den Weg und der Weg ward ganz traurig und starb endlich.

In diesen Ländern wurden damals Erzählungen gesammelt und untersucht bei: Kuilustämmen, Bakuba, Baluba, Bena Ki, Kalebue, Wakussu, Malela, Bena Mai, Bapende, Kanioka und Bena Lulua.

Bei allen Stämmen waren ganz bestimmte Fabeln und Märchen heimisch. Überall jedoch waren sie ererbtes Altgut. Nur die Benalulua und Stämme, die mit ihnen gemischt waren, äußerten immer wieder die Fähigkeit, ja das Bedürfnis, Neues zu schaffen. Alle Neuschöpfungen zeigten dabei den gleichen Ursprung. Sie waren spontan nach irgendeinem Erlebnis aufgetaucht, nicht aber etwa als eigentlich bewusste Dichtung und gewollte Schöpfung, also als Willensakt, sondern als ungesuchter Ausdruck eines organischen Seelenlebens, das nur dann in solche Formen sich auskristallisierte, wenn bestimmte Vorgänge den direkten Anstoß, sich zu äußern, gegeben hatten.

Ich lebte unter den Bena Lulua ständig unter dem Eindruck reich fließenden inneren Lebens, das zunächst allerdings nur Gefühl war, das aber stets sichtbare Formen annahm, sobald eine bestimmte Erregung nach gestaltetem Ausdruck verlangte. Wenn also die einzelne Dichtung des Einzelnen auch dem einzelnen Vorgang folgte, so war, alles in allem genommen, die Fähigkeit zu dichten doch eine solche des Volkes — und zwar nur dieses einen einzigen Volkes —, während sie allen andern Völkern fehlte.

Leo Frobenius
Paideuma · 1921
Umrisse einer Kultur- und Seelenlehre
© 1998- Schule des Rades
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