Schule des Rades

Wilhelmine Keyserling

Anlage als Weg

XV. Leben im Rad

Der Heilige Raum

Das Rad der Zeit ist unser Lebenskreis, unser Wirkfeld. Wenn wir es verstehen, sind wir von der Zeit getragen, laufen ihr nicht hinterher. Und insofern wir den Menschen im All erkennen, können wir auch die Verschiedenheit der einzelnen Menschen besser würdigen. Gurdjieff wurde einmal gefragt, was ist Astrologie, und gab das Beispiel: Ich lasse meinen Stock fallen. Der eine denkt: Warum lässt der Alte seinen Stock fallen, fühlt er sich nicht wohl? Der andere bemerkt den geschnitzten Knauf und die Art des Holzes. Der Dritte hebt ihn auf.

Es gibt freilich keine Zeit ohne Raum, der uns nicht durch Körper und durch die Bewegung — Zeit — von Körpern in Beziehung zueinander bewusst wird. So ist unten für alle Erdbewohner die Erdmitte, der Punkt, der uns zentriert. Oben ist der Himmel in seiner ganzen Weite, für jeden anderswo. Er ist das Oben und das Rundherum, das Überall, auch hier.

Wo die Sonne aufgeht und der Tierkreis auftaucht, ist Osten; und wo sie untergeht ist Westen. (Das genaue Maß stimmt für die Sonne freilich nur zu den Äquinoktien, denn die Bewegungsachse Ost-West verschiebt sich im Jahreskreis.) Ob Winter oder Sommer: Süden ist immer dort, wo die Sonne am Mittag stille steht, das heißt ihren Höhepunkt erreicht.

Südpunkt

Der Südpunkt ist das Maß der Zeit, von Mittag zu Mittag wird sie meßbar.
Die Mitternacht ist gegenüber. Sie ist astronomisch nicht fixiert.

Der Nordpunkt ist nicht ganz identisch mit dem Nordstern. Er beschreibt innerhalb von 25.920 Jahren einen Kreis im Sternbild des Drachen, der aber für das tägliche Bewusstsein des einzelnen nicht ausschlaggebend ist. So werden uns die vier Raumrichtungen über den Zeitlauf gegeben.

P o l · d e r · E k l i p t i k

Zeit ist das Nacheinander, Fortschritt. Daher können wir die Stufenleiter der Chakras nacheinander auch im Kreis anordnen. Null ist die Potentialität des Seienden, 1 empfinden, 2 denken, 3 fühlen, 4 wollen, 5 Körper, 6 Seele, 7 Geist.

Auch in anderen Gebieten kommt die Reihenfolge der Acht klar zum Ausdruck.

Raum ist das Miteinander, das wir über das Viereck ermessen, indem wir das Kreuz schlagen. Vom Raum aus gesehen ist 2 gegenüber der 1, 3 der Gegenpol von 4, 5 aber sind wir selbst, der Messende.

R a u m r i c h t u n g

Während der Kreis bei den Chinesen Yang, das Urbild des sich-Schließenden ist, sind die vier Richtungen im Quadrat Yin, die Offenheit. Sie weisen ins Unendliche. Sie sind auf unserer Ebene des Menschseins auf der Erde die Ortung im heiligen unendlichen Überall.

Damit das Kreuz zum Raummaß werde, brauchen wir das Quadrat mit seinen acht Orientierungspunkten. Fünf ist der Mensch, der sich auf seiner Ebene über die Vier orientiert und zentriert. Zehn ist er, wenn er auf dieser Ebene über sechs, sieben, acht und neun zum Mitwirkenden am Werk der Erde wird. Aber dieser letzte Satz ist eine Vorwegnahme im Verständnis der Raumrichtungen.

D e r · h e i l i g e · R a u m

Gehen wir zurück zur Erfahrung des aufrechten Menschen, der an zehn Richtungen teilhat, weil er in der Senkrechten — 90° zu seinem Wirkfeld — geerdet und gehimmelt ist. Das Unten, die Erdmitte, vermittelt ihm die Endlichkeit, das Oben, der Himmel, das unendliche Überall, das immer als Sitz des Ewigen, des Göttlichen verstanden wurde.

In jedem Zeitalter aber bedarf das Göttliche, jenseits von Name und Form, eines neuen Namens: das Einende Eine.

In altägyptischen Papyrustexten wird das Grundsätzlichste beschrieben als: Der Glaube in einen Urgrund, der sich weder in der Zeit, noch im Raum bestimmen lässt. Dieser ist die absolute Realität, gerade weil er nicht durch unsere Intelligenz zu erfassen ist. Doch kann er nicht als Mysterium betrachtet werden, denn er ist dem Gewahrsein unmittelbar zugänglich und erfahrbar: im ewigen Augenblick die unteilbare Einheit des All.

Dieses Einende Eine jenseits aller Gegensätze wird uns über die Zweiheit bewusst:

Yin
potentieller Raum
unendliches Überall
unendliche Leere
heiliger Urgrund
Urmutter
Yang
potentielle Zeit
ewiger Augenblick
ewiger Beginn
heiliger Ursprung
Urvater

Diese zwei jenseitigen Wesenheiten waren beide in den letzten Jahrtausenden im Begriff des Vatergottes geborgen. Erst im Zeitalter des Wassermann, das Frau und Mann als gleichberechtigte Partner sieht, stoßen die Suchenden, die Mystiker wieder auf die zweifältige göttliche Natur von Urgrund und Ursprung; die Göttinnen feiern ihre Rückkehr. Es ist nicht auf der Ebene der Emanzipation, dass dieser Ausgleich bedeutsam wird, sondern auf der höchsten, der Einung der Gegensätze, der coincidentia oppositorum.

Indianische Freunde waren es, die uns diese Wirklichkeit eröffnet haben, die vielen Menschen wie auch mir zutiefst als selbstverständlich entspricht; habe ich mich doch in meinen Gedichten …den Raum erfüllen der umgibt ohne Schranken… und Meditationen seit jeher in die Arme der Großen Mutter geworfen.

Am Anfang war die Frau, sagen die Indianer; denn die Vorstellung und Erfahrung der absoluten Leere, des unendlichen Nichts steht noch vor dem Urlicht des Bewusstsein, dem Ursprung der Schöpfung, der dieses Überall erfüllt. Urgrund und Ursprung sind also seit eh und je vermählt, um die Schöpfung hervorzubringen. Diese Vorstellung kommt dem Unvorstellbaren näher als die einseitige der letzten Jahrtausende; sie wird zum Gefährt des Inbrünstigen, der sich dem

Einenden Einen über Urgrund D r e i und Ursprung

zuwendet. Damit ist das Sonnenwesen als Sohn des Ursprungs und die Erde als Tochter des Urgrunds wieder heilig.

Der Monotheismus hatte den falschen Animismus ersetzt, der versuchte, sich jenseitige Kräfte zum eigenen Nutzen gewogen zu machen. Er hatte den Menschen als einzigen Sohn des Himmels aber auch vereinsamt, da er den Ausdruck des Göttlichen in der Erde, dem Stein, der Pflanze, dem Tier nicht mehr erahnte.

Mit meinem Mann habe ich mich viele Jahre dem Studium des zwölffältigen Rades auch in seiner indischen und tibetanischen Prägung zugewandt. Das Enneagramm des mittleren Ostens ist uns über Gurdjieff zugekommen; die acht Trigramme, Bausteine des I Ging, waren uns bekannt. Aber das Verständnis des heiligen Raumes konnten wir in Japan, China, in Indien und Europa nicht mehr finden. Auch in den Schriften Castanedas ließ es sich nicht ermitteln.

Erst 1980, da wir auf seltsame Weise mit einem Indianer zusammentrafen, wurde mir klar, dass dieses Wissen im achtfältigen Medizinrad geborgen ist. Ich fuhr nach Los Angeles, wo er damals weilte, um die Raumrichtungen mit dem Zeitgeist zu vermählen, und lud ihn und andere in späteren Jahren zu Seminaren nach Europa ein. Das Verständnis des Raumes gehört zur Urreligion aller Kontinente; es ist somit Erbe der Menschheit, das in der Wassermannzeit in neuer Form Bedeutung gewinnt.

Über die Mitte in der senkrechten Achse Erde — Mensch — Himmel können wir die Kommunion mit dem Einenden Einen, dem Urgrund und Ursprung immer erfahren. Sie sind aber nicht unsere Helfer im Diesseits; sie sind — sonst nicht. Wenn wir jedoch den Einklang mit dem All in unserem irdischen Werden und Wirken suchen, so kommt uns die Macht des Unendlich-Ewigen achtfältig über die Kraftlinien der Himmelsrichtungen zu, sobald wir unser Bewusstsein in ihrer Mitte zentrieren: sei es in unserem Wohnraum, auf der Wiese, oder im Steinkreis, den wir eigens dazu ausgelegt haben. Denn überall ist Mitte, wo wir uns aus dem inneren Wesen auf Himmel und Erde und die acht Richtungen besinnen.

Wie oft haben wir uns mit unseren Freunden beim Spaziergang — der Kompaß war immer bei uns — im Wald oder auf einem Hügel niedergelassen und bloß vier Steinchen in die Hauptrichtungen gelegt und uns im Kreis herumgesetzt.

Wir besannen uns zuerst auf oben und unten, wandten uns dann im Geist dem Osten zu und riefen die Macht der Erneuerung, der Offenbarung und Erleuchtung in unsere Mitte. Dann wandten wir uns dem Westen zu und baten um die Macht des Lassens, des Einstehens und Ergreifens;

steht doch im Westen das Wollen und das I Ging-Trigramm der Erde, die uns die Einstellung zum Lassen und Ergreifen des Gegebenen klar macht.

Dann wandten wir uns dem Süden:
Wir rufen Dich, Macht der Unschuld und des Vertrauens — der Seele.

Im Osten verbinden wir uns mit dem Wesen des Lichts über das Feuer; im Westen mit der Erde als Mineral, Kristall und Stein; der Süden birgt das Geheimnis des Wachstums der Pflanzen mit dem Element Wasser.

Im Norden — denken — riefen wir die Macht der Weisheit, der Strategie im Tun.

Der Nordstern ist die Weisheit des Denkens, das von seiner Mitte ausgeht und die abermillionen Bewegungen (des Sternenhimmels) auf seine Ruhe eicht. Mit dem Norden beziehen wir auch die Denkkraft der Tiere ein, um auf diesen Vieren unser Menschsein als Fünf aufzubauen.

z e n t r i e r e n d e - K r a f t - d e s - K r e u z e s

Immer wieder erfuhren wir die zentrierende Kraft des Kreuzes, das uns, wenn wir das Rad betrachten, unmittelbar über die vier zwischen den Tierkreiszeichen liegenden Kraftlinien mit dem All verbindet.

In unserem irdischen Dasein werden wir von Feuer, Erde, Wasser und Luft, Pflanzen und Tieren ernährt. Der verwesende Körper dient wiederum ihnen zur Nahrung, auch ohne dass wir uns dessen bewusst werden. Doch der zweimal Geborene, der sein Wesen in Beziehung zum All, Leben und Tod, Diesseits und Jenseits wissen will, der seine Menschwerdung als Mitwirkender an der Evolution versteht, der die Bedingungen der Selbsterhaltung auf sich nimmt, um überdies Mitwirkender am ungeahnten Ganzen zu werden, kann seinen zweiten Körper (Astralleib genannt) aus der Allkraft nähren, um diesem unbekannten Sinn — der immer jetzt entsteht — als Mitschaffender zu dienen.

Als solcher sucht er die Beziehung zur 6, Südosten, dem Geist der Ahnen, die als Wegbereiter der Kultur die Vision des Ostens in ihrem Menschsein des Südens verwirklicht haben. An ihnen, den Lehrern der Menschheit, knüpfen wir an, um unseren Weg zu finden.

Wer in kindlich selbstlosem Vertrauen in sich und den Nächsten — S — sein Amt ergreift — W — , dem stehen die Naturkräfte im Südwesten, die Lebenskräfte zur Verfügung; dies ist auch die Voraussetzung der schamanischen Heilung.
Der Unbeirrte, der in Hingabe und Freude schafft, er wirkt am Ganzen und wird vom Spiel der Natur, den arterhaltenden Wesenheiten getragen, die wir auch als Feen, Zwerge, Elfen, Trolle sehen. Sie sind Teil des Kräftespiels der Erde, die wir in unserer Verkörperung brauchen. Wir bezeichnen sie als Glück, und nur im Hochmut selbstherrlichen Wirkens verlieren wir die Gunst.

Entscheidung des Ergreifens — W — und Weisheit unserer Strategie — N — genügen nicht, um in Einklang mit dem All, Nordwesten, zu wirken. In 8 sind es die Botschafter des Himmels, die wir Engel nennen, die Mächte des kosmischen Zusammenhalts, die für den einzelnen die Brücke schlagen zwischen da und dort. Die Ahnen (gegenüber) haben uns bisher geleitet; die Engel gehen den Freunden Gottes an die Hand, um den tatsächlichen Bedürfnissen der Erde und des Menschen zu entsprechen, Einklang im Sinn des Ganzen und Frieden entstehen zu lassen.

Dann werden wir uns in der 9, Nordosten, mit dem Denken — N — auf das ewig neue der Vision — O — richten. In ihrer Mitte inspirieren die Mächte der Verwirklichung den Menschen zur Mitarbeit am großen Werk; neun Musen wurden sie genannt. Die neun Planeten unseres Sonnensystems sind Ausdruck dieser Macht des Tuns.

Ein eigenes Buch müsste man über die Raummächte schreiben. Wenn man einmal den lebendigen Zusammenhang erfasst hat, weist vieles in den hohen Schriften, den Trigrammen des I Ging, den kabbalistischen Zahlen, den Dimensionen der Mathematik auf diese acht Träger des Geschehens hin.

Jederzeit, wenn ich eine verantwortliche Handlung setze oder neuen Abschnitt beginne, kann ich mir die Zehn vergegenwärtigen. Sie sind auch in den Chakras verkörpert als Empfangsstation der Kraft in Entsprechung mit der Planetenreihung von der Sonne. Über das Kraftfeld in den Knien, 8, in Beziehung zur kleinen Aura, und in den Füßen, 9, in Beziehung zur großen Aura, sowie über jenes über dem Haupt, 10, als Höheres Selbst schließen sie die Beziehung des aufrechten Menschen zu seiner Welt und im höheren Selbst die Schaltstelle zwischen Diesseits und Jenseits ein. (vgl. mein Buch Mensch zwischen Himmel und Erde)

Im Leben in der Zeit kommen wir aber an jedem Jahresachtel einen Raumpunkt, der uns die Öffnung zu einer der Mächte ermöglicht. Diese Augenblicke der Beziehung zum unendlich Ewigen waren auch in alten Zeiten Feste, von denen manche noch ungefähr in dieser Bedeutung gefeiert werden, andere seit Jahrtausenden in Vergessenheit gerieten. So ist es auf 0° Widder das Ostfest dem Osterfest nicht fern; auf 15° Stier das Nordostfest in der Nähe der Walpurgisnacht, auf 0° Krebs das Nordfest die Sommersonnenwende. Das Nordwestfest der Freunde Gottes wurde das erste Mal am 8. August 1164 vom Alten vom Berge in El Alamut verkündet.

Das Westfest auf 0° Waage hat in der Wassermannzeit wie auch die anderen eine neue Bedeutung, schließt aber Aspekte des jüdischen Yom Kippur ein. Das Südwestfest der Elementarkräfte auf 15° Skorpion betrifft die Lebensfreude und den Tod, es ähnelt Allerheiligen und Allerseelen. Das Südfest, 0° Steinbock, die Geburt des Lichts, des unschuldigen Kindes in der Seele eines jeden, ist kurz vor Weihnachten, und das Neujahr auf 15° Wassermann stimmt oft mit der chinesischen Jahreswende überein. Doch sind alle aus dem unmittelbaren Verständnis des heiligen Raumes zu begehen, und jedes Jahr im Wandel der Planeten verleiht ihnen eine andere Bedeutung.

Wohl eine Woche vor den Festen versuchen wir die Einstellung zu finden, die Weisung zu empfangen, die jedem der Freunde Gottes die erneuernde Kraft aus dem Unendlichen vermittelt, um aus dieser Einstellung in seinem zwölffältigen Zeitfeld zu wirken. So wird auch der Raumzeitkreis mit seinen Festen zur Spirale der Entfaltung. Die Beziehung zum unendlichen Ewigen und das Mitwirken am Werk der Erde, im Zeitrahmen des Endlichen, verbinden sich zum Leben im Rad.

Wilhelmine Keyserling
Anlage als Weg · 1988
Theorie und Methodik der Astrologie der Wassermannzeit
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD