Schule des Rades

Wilhelmine Keyserling

Anlage als Weg

Vorwort

Bewusstsein

Was ist nun dieser Schaltplan des Bewusstseins? Er ist ein Beziehungsgefüge, bei dem das Ausschlaggebende darin besteht, dass keine mögliche Bewusstseinsrelation ausgeschlossen wird. Aber klären wir zuerst, was Bewusstsein überhaupt ist, bevor wir von Schaltplan und Struktur sprechen: Bewusstsein bedeutet, dass ich wirklich und ganz da bin — in Beziehung zum Ganzen.

Sein ist Gegenwart: ich bin, also zeitlich erlebt, im Augenblick, von dem aus allein sich Vergangenheit und Zukunft erschließen, dass heißt betrachten lassen, ohne dass es ein Vorgreifen oder Nachschleifen wäre.

Bewusstsein ist wie ein Stillstehen der Zeit. Da sich alle Zeitrhythmen in der Natur als Umläufe darstellen, ist dieser Mittelpunkt, um den sich etwas dreht, der ruhende Pol — der Augenblick, der mich mit der Wesensart des Zeitlosen verbindet; Gott ist der unendliche Augenblick.

Räumlich gesehen ist die Mitte des Kreises jener Punkt, von dem alle Orte der Peripherie gleich weit entfernt sind. Auch geometrisch ist eine gleichmäßige Beziehung zum Ganzen nur von der Mitte aus möglich. Bewusstsein bedeutet Mitte sein, von der aus alle Dinge gleich nahe liegen.

Der elfte Vers des Tao Te King lautet:

Dreißig Speichen umgeben eine Nabe:
in ihrem Nichts besteht des Wagens Werk.

Die Mitte eines Wagenrades ist die Leere, die von der Nabe umschlossen wird. Dieser Mittelpunkt, der nicht Rad ist, ist dennoch jener, welchem dieses seine Tauglichkeit verdankt. Alle Speichen weisen auf ihn hin oder gehen von ihm aus: er schafft den eigentlichen intensiven Zusammenhang, obwohl er als Punkt keine Ausdehnung hat und im Nichts liegt. Wenn der Mensch wirklich im Bewusstsein ist, dann identifiziert er sich nicht mit dieser oder jener Begebenheit seines Schicksals oder einer besonderen Ausformung seiner Anlage, sondern mit der eigenschaftslosen, intensiven Energie, die das Rad zusammenfügt.

Was bin ich? Das ganze Rad, aber von der Mitte aus gesehen. In dem Maß, wie sich der Schwerpunkt meiner Bewusstheit in die Mitte verlagert, erfahre ich den Wer: erlebe ich Bewusstsein.

M I T T E

Wenn ich mich nun in die Mitte werfe
(Meister Eckhart), mein Wer in der Nabe
des Rades verankere, in diesem Nichts,
so bin ich niemals diese leere Mitte allein, denn
es gibt keine Nabe ohne Rad, sondern:

Ich bin das Nichts im Etwas

Es gibt kein niedrigeres oder höheres Bewusstsein; dies waren Formulierungen eines hierarchischen Zeitalters. Es gibt vielmehr Menschen, die Augenblicke des Bewusstseins erlebt haben; solche, die einen bestimmten Zugang zum Bewusstsein gefunden haben, und andere wenige, deren Wer das ganze Was durchsetzt; deren Bewusstsein selbst die unscheinbarste Handlung und Regung erfüllt.

Das Wer, das Bewusstsein, ist eine Erfahrung, die Dauer erlangen kann beziehungsweise uns in die Dauer führt. Aber wenden wir uns, um noch in dieser Analogie zu bleiben, dem Rad selbst zu. Ein Rad hat eine Struktur und Bauart; es ist das Was. Dieses Was können wir untersuchen und kennen lernen, um zu wissen, woran wir sind, und wie wir nützlich werden können — zu welchem Karren, Fahrrad oder Uhrwerk wir gehören.

Doch um die Struktur des Bewusstseins kennen zu lernen, genügt die Analogie mit dem Wagenrad nicht mehr. Wir müssen mit pythagoräischer Exaktheit die Verhältnisse von Zahl, Maß und Schwingung in der Tonwelt und Farbwelt, die Beschaffenheit der Materie in den atomaren Strukturen untersuchen, aus deren primären Gegebenheiten Arnold Keyserling eine Figur gefügt hat, die er als das R A D bezeichnet.

Dieses Rad veranschaulicht eine Vielfalt. Jede Mannigfaltigkeit gründet auf Ur-teilen. Ein Ur-teil nenne ich ein Prinzip. Diese Prinzipien als zeitliche Urvorgänge und räumliche Urgegebenheiten finden sich in der ganzen Erscheinungswelt. Jede Mannigfaltigkeit lässt sich auf Komponenten zurückführen, anders wären sie nie zu verstehen. Daher muss auch die Struktur des menschlichen Bewusstseins eine begrenzte Anzahl von Komponenten aufweisen. Da alles mit allem in Beziehung steht, muss es Urprinzipien geben, die sowohl der Beschaffenheit des menschlichen Bewusstseins als auch der Natur zugrundeliegen und im ganzen All wirksam sind. Wir knüpfen also an der hermetischen Naturphilosophie an, die seit der Aufklärung in Vergessenheit geriet.

Warum betrachten wir im folgenden das Rad als Bewusstseinsstruktur, warum sagen wir nicht lieber Körper-Seele-Geist-Gefüge? Weil wir zwar die Beschaffenheit des Menschen an sich untersuchen wollen, sie aber aus philosophischer Sicht als Gefährt des Bewusstseins betrachten. Wir wollen in sokratischer Einstellung — Sokrates bezeichnete seine philosophische Methodik als Anamnese und Maieutik — die unbewusste, dem menschlichen Handeln und Erfahren zugrundeliegende Struktur enthüllen und als zweite Geburt die Entbindung des Wer fördern.

Wilhelmine Keyserling
Anlage als Weg · 1988
Theorie und Methodik der Astrologie der Wassermannzeit
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD