Schule des Rades

Arnold und Wilhelmine Keyserling

Ars Magna

IV. Mystik · Das Tor des Westens

4. Samadhipada

Die Sinne gilt es durch Übung zu entfalten, die Denkbereiche zu meistern, um im kosmischen Bewusstsein zu leben; die Triebe des Fühlens in ihrem Sosein zu erkennen und zu mäßigen. Die drei vereinen sich in den Bewusstseinsstufen des Wollens, die vom Löwen in die Mitte verlaufen.

  • Das Wachen, lokalisiert in der linken Hemisphäre, ist das Bewusstsein des Empfindens.
  • Die Reflexion, im Hinterhirn, bestimmt das sprachliche Denken.
  • Der Traum, gesteuert aus den Trieben des Fühlens der rechten Hemisphäre, zeigt die Motive.
  • Das Wachen bringt das Material des Bewusstseins, die Reflexion dessen sprachliche Klärung, der Traum die affektive Besetzung. Nur wenn der Traum durch Interpretation zugänglich wurde und damit der Einstieg in den Nagual vollzogen, wird die vierte Stufe als Schlaf, als innere Stille des Wollens zugänglich, als Fähigkeit der Regeneration.
  • Der Körper wird als Vergangenheit bewusst; es gibt nur die eigene, jede Erfahrung schmerzlicher und freudiger Art hat ihren Stempel hinterlassen. Doch der Körper hat in seinen Zellen an der Geschichte der Menschheit teil; so muss man sowohl die persönliche als auch die kollektive Vergangenheit integrieren, um fähig zu sein, als Seele in der Gegenwart zu leben.
  • Die Seele als sechste Stufe bestimmt die augenblicklichen Abläufe, die über das Sprechen integriert werden: nur was der Mensch ausspricht wird Teil seines Wesens. Hier ist der Bezug zum Mitmenschen, sowohl den gleichaltrigen als auch den älteren und jüngeren, den Eltern und Kindern. In diesem Rahmen muss der Mensch sein strategisches Ich wahren, um in der Gegenwart zu leben. Französisch sagt man für einen Schauspieler: il a une présence, er hat eine Gegenwart; er identifiziert sich nicht mit seiner Rolle, sondern steht hinter ihr.
  • Dem Geist entspricht die Zukunft, die nur dem Fragenden offen steht: wer fragt, bekommt Antwort, wer klopfet, dem wird aufgetan, steht im Evangelium.

Zukunft, Hoffnung, kann man haben oder nicht, niemand hat sie, der die Vergangenheit nicht bis zur Gegenwart integriert hat. Der Körper entspricht dem Stammhirn, die Seele dem limbischen System, der Geist dem Großhirn. Evolution ist limbisch nur darin möglich, was Lust und Freude bereitet hat. Im Leiden spürt man sich intensiv leben, und neigt dazu, sich mit ihm zu identifizieren. Daher ist laut Gurdjieff das wichtigste Opfer für den Menschen, sein Leiden hinzugeben, aus dem die negativen Erwartungen kommen. Die tatsächliche Zukunft ist niemals vorauszubestimmen: der Geist weht wo er will.

Die Liebe der Sinnlichkeit, das Erleben des kosmischen Allzusammenhangs im Denken, die Annahme der steten Neugier und das Vertrauen in die Zukunft sind die vier Koordinaten, die das Gewahrwerden, den Samadhi, das vergottete Bewusstsein aufscheinen lassen und die Mitte der menschlichen Individualität vom Zeugen in den der Hingabe fähigen Täter verwandeln. Die Bewusstseinsschichten bilden seine Werkzeuge.

Ist die Aufmerksamkeit auf das Schmecken gerichtet, dann ist sie nicht im Sehen. Konzentriere ich mich auf die Welt der Quanten, dann entgehen mir die planetarischen Rhythmen. Habe ich Angst, dann kümmere ich mich nicht um Ernährung. Bin ich wach, dann träume oder schlafe ich nicht. So sind die 28 Komponenten voneinander getrennt, und gehören gleichzeitig demselben Zentrum zu: dem Gewahrwerden das aus der Erdmitte die gesamte Energie des Kosmos dann aufnimmt, wenn es imstande ist, den Spiegel der Reflexion, in dem die meisten Menschen gefangen sind, zu durchbrechen.

Der Weg dieses Durchbruchs zur mystischen Ganzheit bildet die acht Glieder des Yoga; er geht bewusst die Stufen in allen vier Aspekten gemeinsam von den Sinnen bis zum Samadhi durch. Das letztere Erleben kann spontan auftauchen: als Gipfelerfahrung der Schönheit der Natur, einer überströmenden Dankbarkeit, dem Gotteserleben, in der großen Liebe. Diese Blitze sind die Lichterstraße des Wesens; nur wenn es gelingt, sie zu verbinden und häufiger zu machen, erreicht der Mensch für dauernd seine Mitte und wird in gurdjieffscher Formulierung ein kosmisches Individuum. Hierzu muss er die Mitte des Rades, den Zeugen, durch alle sieben Stufen anjochen, bis er den reinen Zustand der Vereinigung mit dem göttlichen Ursprung im Leben wirksam machen kann. Dies ist nur durch die vierfache Gliederung jeder Stufe möglich. Der Weg geht linksläufig im Sinne der Erde um das Rad.

  1. Yama: Dies ist der Name des Herrn des Todes, des ersten Menschen, der die Unsterblichkeit erreichte und die Schwelle bildet für alle, die zur Mitte des Rades durchstoßen wollen. Yama heißt auch Disziplin, Schülerschaft. Vor dieser steht das große Gelübde: dass fortan das Ziel der Befreiung entscheidend wird und man diesem das ganze Leben weiht. Im Empfinden ist hierzu die Voraussetzung, zur unassoziativen Wahrnehmung zu gelangen, also die Welt nicht mehr durch eine kulturelle Brille zu sehen, sondern als Wirklichkeit, so wie sie ist und gut ist. Der Weg verlangt unbedingte Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit, keine Schwächen zu verbergen, weil diese allein den Menschen voranbringen. Gleichzeitig darf man aber auch kein Ärgernis dadurch erregen, dass man sich brüstet auf dem Weg zu sein. Die Disziplin, einen Teil des Tages der Öffnung nach innen zu widmen, muss geheim bleiben, damit sie nicht in den zarten Anfängen gestört wird. Der erste Feind des Fühlens ist hierbei die Angst: sie wird überwunden, indem man alles, was kommt immer als Fügung, als Zustimmung des Universums betrachtet, wodurch man aus der Gewohnheit in die dynamische Entfaltung tritt.
  2. Niyama: Hat man die negative Disziplin integriert, die eine gewisse Zeit der Entsagung verlangt, auf dass man nicht mehr durch die Sinneseindrücke mitgerissen wird, kommt die positive Disziplin, nämlich Bücher zu lesen, die mit diesem Weg zu tun haben, Menschen aufzusuchen, die das gleiche Anliegen verfolgen, im anderen den Lehrer zu suchen, der einem weiterhelfen kann, durch diesen Anspruch wird er selber einer, ob er will oder nicht; gerade wenn er gar nicht die Absicht hatte, wirkt das Göttliche durch ihn hindurch.
    Die Wichtigkeit der Stellung in der Welt wird durch die Position im inneren Fortschritt abgelöst. Es gilt das eigene Wissen als Besitz genau zu kennen und nach jenen Menschen Ausschau zu halten, die es ergänzen können, und dazu in der Reflexion auf alle Gedanken zu verzichten, die einem nicht klar sind, sie in Geduld vorläufig stehen zu lassen.
  3. Asana: Mit der nächsten Stufe, Asana, woher der Hatha-Yoga — Vereinigung von rechts und links, Sonne und Mond, Ida und Pingala seinen Namen hat — wird die Ruhe im Wachen durch Anjochung des Fühlens erreicht. In der Asana, einer Ruhestellung des Körpers, können die Gefühle frei fließen und die Schuldgefühle, die durch die Notwendigkeit des Tötens in der Nahrungsaufnahme entstehen, transzendiert werden. Die Träume finden ihr eigenes Gleichgewicht, die falsche Selbstkritik und Kränkung schwindet und wird von der inneren Heiterkeit, der Seinsfreude, abgelöst.
  4. Pranayama: Ist der Körper zur Ruhe gelangt, sind die Gefühle gestillt, findet der Mensch die Möglichkeit, Pranakraft über den Atem unmittelbar aufzunehmen und in potentielle Energie zu verwandeln. Jede Rhythmisierung des Atems kann dazu dienen, und eine jede der Übungen zeitigt andere Wirkungen, bildet einen anderen Einstieg. Der Atem ist der Born schier unvorstellbarer Kraft, da man in jeder Inspiration geboren wird, in jeder Expiration stirbt. Über den Atem finden wir die Möglichkeit, das regenerierende Tiefschlafbewusstsein des Wollens zu integrieren, ohne in Angst wegen der Inhaltsleere zu verfallen, also den Schlaf im Wachen zu erreichen.
  5. Pratyahara. Dies ist der Zustand der Schildkröte, die ihre Glieder einzieht. Er bedeutet Introversion, die Fähigkeit, die eigene Vergangenheit und die Assoziationen vom Zeugen aus zu betrachten, ohne sie positiv oder negativ zu bewerten. Nicht nur einem selbst, auch anderen hilft diese Stufe; üben genügend Menschen Pratyahara, so kann die Gesellschaft laut indischer Überlieferung nicht der vollständigen Zerstörung anheimfallen. Dies ist der letzte innerkörperliche Schritt, man hat die Urzelle erreicht, kommt zu ihr zurück und findet die große Freiheit der drei letzten Stufen, die als Samyama das eigentliche Geheimnis des Yoga bilden.
  6. 7.  8. Dharana · Dhyana · Samadhi. Bei der Inkarnation entspricht die Stufe der Vereinigung der Chromosomen der seelischen Polarisation, die Befruchtung dem Geist, und den Ausgangspunkt bildet die Heimat im Großen Rund des Himmels. Die Fähigkeit, sich seelisch in der Gegenwart ohne Bezug auf die körperliche Vergangenheit auf das Wohl anderer zu konzentrieren, mit diesen die innere Einheit der geistigen Meditation zu spüren — was in dir ist, ist auch in mir — und schließlich den Samadhi in seinen vielen Formen, die Freude der Einung mit dem göttlichen Ursprung auf der Erde zu erleben, das macht den befreiten Menschen aus.
    • Dharana als Konzentration ist auf einen Gegenstand oder ein Wesen gerichtet,
    • Dhyana oder Meditation erlebt dessen Beziehung zum Subjekt, und Kontemplation oder Enstase,
    • Samadhi die Eingliederung von beiden in den Ursprung. Damit ist das Tor des Westens durchschritten und der Mensch zur göttlichen Mitarbeit als Yogi bereit; er hat das volle Bewusstsein erreicht.

Doch dieses Bewusstsein hat sein Ziel nicht in sich; es muss dem Großen Ganzen dienen. Der Dienst, die Mitarbeit im All, wird durch das Tor des Südens eröffnet, das den seelischen Zusammenhang des Menschen mit allen Kräften, Geistern und Göttern erlebbar macht.

Arnold und Wilhelmine Keyserling
Ars Magna · 1982
Kriterien der Offenbarung
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD