Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

8. Das rationalistische Denken

John Locke

John Locke wurde 1632 bei Bristol geboren. Sein Vater nahm an der Seite des Parlaments am Bürgerkrieg teil. Von der grammatisch-scholastischen Philosophie in Oxford abgestoßen, wandte er sich dem Studium von Descartes, Gassendi und Hobbes zu und widmete sich vor allem der Chemie und Medizin. 1666 wurde er mit Lord Shaftesbury bekannt, dessen Haus er durch zwei Generationen als Freund, Sekretär, Hausarzt und Erzieher verbunden blieb. 1675-1679 lebte er in Frankreich, 1683-89 im Exil mit seinem Herrn in Holland. 1689 kehrte er nach der glorreichen Revolution nach England zurück. Jetzt begann seine reiche literarische Tätigkeit. Er starb 1704.

Lockes Erkenntnistheorie, die er 1688 als Essay Concerning Human Understanding veröffentlichte, gilt als die Grundlegung des Empirismus und zeigt dessen Unterschied zur Substanzphilosophie. Sie ist weniger eine theoretische systematische Schöpfung als vielmehr eine durchgearbeitete Darstellung der Gedanken, die damals in England zur Herrschaft gekommen waren.

Der Kampf zwischen Cromwells Puritanern und den königstreuen Kavalieren, der mit der Hinrichtung Karl I. zugunsten der Puritaner entschieden worden war, hatte Locke misstrauisch sowohl gegen die traditionellen Staatstheorien als auch die religiösen Radikalismen gestimmt. Seine eigene Theorie der Trennung der Gewalten — die er nicht erfunden, aber durchformuliert hat und die schließlich die Grundlage der amerikanischen Verfassung mit ihren checks and balances, der Trennung von Exekutive, Parlament und Oberstem Gerichtshof bilden sollte — wurde vom zurückkehrenden König zum Leitfaden der Restauration erklärt.

Lockes Theorie gründet sich auf seine physikalische demokritisch-epikuräische Auffassung. Wie Robert Boyle im Gegensatz zur Suche der Alchemisten nach dem einen Urstoff die Vielzahl der Elemente annahm, so sah die lockesche Staatsverfassung die Grundlage des Zusammenlebens in einer Vielfalt von Menschen. Geheiligtes Königtum lehnte er ab; seine Sympathien lagen beim besitzenden Bürgertum. Für die philosophische Entwicklung wurden zwei seiner Theorien entscheidend: einerseits das Ablehnen der eingeborenen Ideen, die seit Platon über die stoischen rationes seminales bis zu Leibniz das Denken bestimmt hatten; und andrerseits seine praktische Veränderung der pythagoräisch-galileischen Unterscheidung zwischen primären und sekundären Qualitäten. Primäre seien vom Körper untrennbar; zu den galileischen Qualitäten Zahl, Bewegung, Ruhe, Gestalt und Ausdehnung fügte er Solidität als Gegebenheit des Tastsinnes hinzu. Sekundär seien alle qualitativen Wahrnehmungen über die anderen Sinne wie Farbe, Ton, Geschmack und Geruch. Diese Überbewertung der Daten des Tastsinnes und damit auch der Mechanik legte die Naturwissenschaft auf eine verfälschte Weltauffassung fest, die erst mit Planck und Einstein rückgängig gemacht wurde, obwohl sie schon durch Berkeley widerlegt worden ist.

Locke nahm drei Grundbegriffe als Kategorien an: Modi, Substanzen und Relationen.

  • Modi seien einfach oder gemischt, unmittelbare Gegebenheiten, aber auch jene abstrakten Vorstellungen, die ihre Erkenntnis möglich machen, wie Raum und Zeit, Vermögen und Wirklichkeit.
  • Substanzen seien Dinge, denen wir als Zusammenhang einen Bestand beilegen, weil die Komponenten erfahrungsgemäß gemeinsam auftreten; von hier aus war es dann nur noch ein kleiner Schritt bis zur Leugnung David Humes jeglicher Substanz.
  • Relationen sind dagegen die Verhältnisse, die durch Vergleichung zwischen den Modi oder den Substanzen entstehen.

Nicht der architektonisch-systematische Sinn der Substanzphilosophen, sondern der nüchtern-prüfende des Kaufmanns hat beim empirischen Rationalismus Pate gestanden. In den Gedankengebäuden von Descartes, Spinoza und Leibniz hält jeder Stein den anderen; die gedankliche Pyramide der Empiristen ruht dagegen, um eines ihrer Bilder zu verwenden, auf der breiten Basis der Erfahrung, der die Theorien angepasst werden sollen; sie schien daher in geringerem Maße der Gefahr ausgesetzt, falsche Hypothesen zu liefern. Dass sie es dennoch getan hat, liegt nicht an ihrem Grundsatz, sondern an der Tatsache, dass die Empiristen hinsichtlich ihrer eigenen Voraussetzungen negativ dogmatisch und skeptisch waren, und dies genauso schroff, wie Spinoza es positiv in seiner geometrischen Deduktion war.

Der große Meister war für Locke der Common Sense, der gesunde Menschenverstand; dieser demokratischen Institution seien alle Urteile vorzulegen. Sie wurden also nicht nach dem Begriff der logischen Adäquatheit, sondern nach ihrer Plausibilität geprüft. Hier nun gab es für die Empiristen nur zwei Quellen alles Wissens: die Beobachtung, die sich in den Daten, den Messungen und den Berechnungen niederschlägt, wird durch die Verbindung zwischen den Sinnesdaten ergänzt, die der Verstand schafft. Gegeben seien also nur die Wahrnehmungen und ihre Assoziationen. Diese bilden sich zufolge der Erziehung in der menschlichen Vorstellung, dem mind. Bei der Geburt ist mind tabula rasa, eine leere Wachstafel, in die sich dann später alle Erfahrungen einprägen und so den individuellen Charakter bestimmen.

Die Religion wurde aus praktisch-ethischen Gründen gelten gelassen. Hier folgte Locke der antiken Skepsis, wie auch Hobbes, der selbst nicht gläubig war, das Recht des Staates verteidigte, die Untertanen auf eine bestimmte Religion und Morallehre zu verpflichten; man müsse diese herunterschlucken wie eine bittere Pille.

Die positive Leistung der lockeschen Philosophie liegt in ihrer Beschränkung auf jene Probleme, welche sich mit dem gesunden Menschenverstand wirklich lösen lassen und die nun zum ersten Mal verselbständigt wurden; hierin bedeutete der Empirismus einen echten Fortschritt des Denkens in wissenschaftlicher und politischer Hinsicht. In geist-religiöser jedoch brachte er eine Spaltung zwischen spirituellem und intellektuellem Bemühen, die in der Folge von keinem empirischen Denker mehr zu überbrücken war. Einerseits gewannen im englischen Sprachbereich die Geheimgesellschaften eine immer größere Macht, und andrerseits verschmolz die christliche Religion mit den akzeptierten Sitten und Gebräuchen in solch einem Maße, dass kein Außenstehender mehr ihren irrationalen Zusammenhang durchschauen konnte. In Amerika dagegen, wo diese Einstellung keine Kompromisse mit der Tradition schließen musste, entwickelte sie sich im Pragmatismus zu einer geschlossenen Lehre, die heute als American Way of Life eine feste Gestalt gewonnen hat und vor allem durch ihre Wertung der Erziehung hervorsticht, denn wenn die menschliche Seele nur tabula rasa ist — dass sie auch dieses sei, hatte Platon, von dem das Bild stammt, zugegeben — dann hängt von einer richtig durchgeführten Erziehung tatsächlich sowohl der Charakter des Einzelnen als auch der politische und bildungsmäßige Zustand der Gemeinschaft ab.

Locke brachte seine Ideen in essayistischer Form in toleranter Weise vor und hatte eine große Überzeugungskraft. Seine beiden Nachfolger, George Berkeley und David Hume, ergänzten sie zum empiristischen System und brachten dieses zum Abschluss.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
8. Das rationalistische Denken
© 1998- Schule des Rades
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