Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

8. Das rationalistische Denken

Kritik der praktischen Vernunft

Während die reine Vernunft zwischen synthetischen und analytischen Urteilen, zwischen a priori und a posteriori steht, befindet sich die praktische Vernunft zwischen den sinnlichen Trieben und den geistigen Vernunftgesetzen. Wann immer der Mensch den Trieben folgt, ist er nicht frei, sondern durch sie bestimmt. Autonom kann er nur dann sein, wenn er sein Handeln der Vernunft, also der klaren Erkenntnis unterordnet. Aus dieser Vernünftigkeit des Handelns entspringt die wahre menschliche Gemeinschaft, die Kant auf ein einziges unbedingtes Gebot, den kategorischen Imperativ gründen will. In der Kritik der praktischen Vernunft wird er folgendermaßen formuliert:

  • Handle so, dass die Maxime deines Wollens zugleich als Maxime einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.

In der Grundlegung der Metaphysik der Sitten ergänzte ihn Kant durch andere:

  • Handle nach solchen Maximen, von denen du wollen kannst, dass sie allgemeinen Gesetzen dienen sollen; oder: so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte.
  • Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als auch in der Person jedes anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.
  • Handle nach der Idee des Willens eines jeden vernünftigen Wesens als allgemein gesetzgebendem Willen.

In diesen Imperativen sah Kant die Grundlage des Rechtsstaates, zu welchem nach seiner Auffassung die politische Entwicklung unweigerlich hinführen wird.

In der reinen Vernunft sind Gott, Welt und Seele die Ideen; in der praktischen Vernunft werden das Dasein Gottes, die Unsterblichkeit der Seele und die sittliche Tugend als Leben in Übereinstimmung mit Gottes Wollen die Postulate, die als einsichtige Vernunftprinzipien einen höheren Rang beanspruchen als die offenbarten Religionen. Sie bilden die Voraussetzungen einer persönlichen und staatlich rechtlich begründeten Freiheit, die nur dann bestehen kann, wenn der Mensch seine Entschlüsse nicht aus triebhafter Neigung, sondern aus der Pflicht nach dem Vernunftgesetz autonom fasst.

Zwischen Vernunft und Sinnlichkeit steht der Verstand, der, wie Kant behauptete, der Natur die Gesetze vorschreibt. Dies meinte er jedoch nicht im idealistischen Sinne, als ob der Geist der Ursprung der Wirklichkeit wäre, sondern der Mensch könne nur jene Gesetze erkennen, die seinem Denken entsprechen. Dieser Verstand befindet sich zwischen den Erkenntnissen der reinen und den Postulaten der praktischen Vernunft; als deren Bindeglied schuf Kant als letztes systematisches Werk seine Kritik der Urteilskraft.

Urteile, die der syllogistischen Dialektik entstammen, haben zwei Formen: bestimmend und reflektierend. Bestimmend ist deduktiv und reflektierend ist induktiv. Während die erste Form vom bekannten Prinzip und Oberbegriff auf Einzelheiten verallgemeinert, sucht die reflektierende Urteilskraft nach einem Prinzip, das entweder die ästhetische oder die teleologische, die subjektive oder objektive Zweckmäßigkeit bestimmt. Mit dieser Zweckmäßigkeit suchte Kant nach einem Kriterium der Induktion, welches, wie die englischen Philosophen erwiesen hatten, der einzige Leitfaden aller wissenschaftlichen Forschung ist. Auch Kant fand keine wissenschaftliche Bestimmung, sondern nur zwei materiale Bestimmungen: Schönheit und Erhabenheit. Schönheit sei diejenige endliche Vollendung der Natur, welche das menschliche Gemüt in ruhige kontemplative Zufriedenheit versetzt. Erhaben sei derjenige Gedanke oder die Gestaltung, die das Unendliche berührt und das Gemüt in eine dynamische Bewegung bringt. So kennzeichnet Schönheit die Vollendung des natürlichen, und Erhabenheit die Vollendung des sittlich-vernünftigen Bereichs.

Es ist offensichtlich, dass diese Bestimmung keine Synthese von praktischer und reiner Vernunft, von denken und handeln zu schaffen vermag. So entzündete sich an diesem Problem als nächster Denkstil das idealistische Denken, welches den Höhepunkt der deutschen Philosophie gebildet hat.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
8. Das rationalistische Denken
© 1998- Schule des Rades
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