Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

9. Das idealistische Denken

Johann Wolfgang von Goethe

Im Unterschied zum offiziellen Christentum hatten die Esoteriker den Weg der Erkenntnis zur Erlösung beschreiten wollen. Ihr Ziel war das Erreichen des inneren Wortes, die Gewinnung des alchemistischen Goldes oder der Sonnenkraft als Vorstufe der Vereinigung mit Gott. Goethe kehrte nun die Richtung um: anstatt sich meditativ in den Ursprung zu versenken, fand er in ihm die Wurzel der künstlerischen Gestaltung; und anstatt wie Kant die Triebhaftigkeit abzuleugnen, sah er in ihr die Entelechie, die nach Verwirklichung und Verkörperung drängt.

  • Kant hatte den Begriff der Freiheit dahingehend bestimmt, dass nur derjenige frei sei, welcher sein Handeln dem Gesetz der Vernunft unterordne.
  • Rousseau und die französischen Aufklärer betrachteten dagegen die Freiheit als ein Menschenrecht, auf dem sich die Gesellschaft aufbauen sollte;
  • und die englischen Empiristen wollten die persönliche Freiheit durch das System der Teilung der Gewalten gegen die Willkür des Staates sichern.
  • Goethe entdeckte eine andere Art von Freiheit: frei sei nur jener Mensch, der sich gemäß seiner Entelechie, seiner Triebgrundlage entwickeln könne. Das größte Hindernis gegen diese Freiheit wäre eine Tätigkeit, die nicht mit den eigenen Interessen und Begabungen übereinstimme; die also nicht spontan erfolgt, sondern aus der Funktion bestimmt wäre — dass ein Mensch z. B. einen bestimmten Beruf ergreift, weil er darin die besten Chancen für sein Fortkommen erblickt und nicht deswegen, weil er ihm innerlich entspricht.

Die innere Entelechie erlebt der Mensch als Sehnsucht, als unbestimmten Drang. Diese Sehnsucht ist für Goethe nicht das letzte Ziel, als welches die späteren Romantiker sie hinstellten, zu denen er sich in Gegensatz wusste; der Drang nach Verwirklichung der Sehnsucht werde nur in der künstlerischen Gestaltung, der jeweiligen Vollendung erfüllt. Diese Vollendung ist nicht als Zweck oder Funktion vorgesehen; der Mensch lebt nicht von außen nach innen, sondern von innen nach außen.

Das Wesen aller künstlerischen Tätigkeit ist nicht die Mühe, sondern das Spiel. Anstrengung und Arbeit haben ihre Funktion. Doch diese ist nur eine vorbereitende, gleich wie der Klavierspieler Fingerübungen machen muss. Erst in der Meisterschaft kann der Geist der Musik zum Ausdruck gebracht werden. Im vollendeten Spiel ist keine Mühe mehr sichtbar.

Den Geist gilt es zu verwirklichen; er verwirklicht sich in der persönlichen Seele gemäß ihrer Triebstruktur. Die Triebe sind weder gut noch böse; sie sind indifferent. Sie sind das einzige Material, aus dem die Entwicklung ansetzen kann. Von diesem Gesichtspunkt aus ist es gleichgültig, was für eine Tätigkeit man entfaltet. Im Werther schrieb Goethe: Meine Mutter möchte mich gerne in Aktivität sehen. Bin ich jetzt nicht auch aktiv? Und ist’s im Grunde nicht einerlei, ob ich Erbsen zähle oder Linsen!

Nicht das Werk oder die Frucht, sondern das Fruchtbringen ist der Entfaltungsweg der Entelechie. Und rastlose Tätigkeit sah Goethe auch als Sinn eines möglichen Weiterlebens nach dem Tod im Unterschied zur statischen Kontemplation der christlichen Scholastik. Dennoch war sein Subjektivismus nicht im Sinne des Geniekults der Romantiker; im Gegenteil, all sein Streben richtete sich auf Erkenntnis und Gestaltung der Wahrheit. Ein anderer Spruch verdeutlicht dies:

Wer in dem fortdauernden Bestreben begriffen ist, die Sachen in sich und nicht, wie unsere lieben Landsleute, sich nur in den Sachen zu sehen, der muss immer vorwärts kommen, indem er seine Kenntnisfähigkeit vermehrt und mehrere und bessere Dinge in sich aufnehmen kann.

Die Wahrheit, als Ideal verstanden, hatte für Goethe einerseits den objektiven Aspekt, wie Kant ihn bestimmte, und andrerseits den subjektiven: wahr — im Unterschied zur objektiven Richtigkeit — ist für einen Menschen nur das, was ihn auf seinem Entwicklungs- und Verwirklichungsweg nützt. Dies ist gleichsam eine subjektive Anwendung des rationalistischen Begriffes der adaequatio; wie im System eine Idee nur dann wahr ist, wenn sie in einsichtiger Beziehung zu allem anderen steht, so ist im Menschen nur diejenige Wahrheit verkörpert, deren Erkenntnis ihn auf seinem Weg zur Persönlichkeit verwandelt hat.

Persönlichkeitswerdung durch Objektivierung und Gestaltung der Anlage war der goethesche Lebensweg. Das doppelte Ideal der objektiven und persönlichen Wahrheit, das im Gegensatz zum englischen Individualismus mit seiner Betonung der persönlichen Meinung stand, gab auch seinen wissenschaftlichen Bestrebungen eine neue Richtung, die an die Wahrheitsauffassung des Albertus Magnus anschloss. Wahrheit wäre nicht Aufspaltung der Welt in funktionelle Elemente zum persönlichen Gebrauch im Sinne des baconschen Leitspruches Wissen ist Macht — sie ist Erkenntnis des inneren Zusammenhangs der Wirklichkeit durch Hineinwachsen. Goethe hatte also, naturwissenschaftlich gesprochen, den alchemistischen im Gegensatz zum chemischen Erkenntnisbegriff. Ihm ging es nicht um Bewältigung der Natur, sondern um ihr Innewerden. Daher rührt seine Feindschaft gegen die newtonsche Farbenlehre, die die Wahrheit im Auseinanderklauben des Lichtes zu finden glaubte. Für Goethe war die Natur Qualität. Zu Eckermann sprach er: Das Höchste wäre zu erkennen, dass alles Faktische schon Theorie ist… man suche nur nichts hinter den Phänomenen, sie selbst sind die Lehre. Und an anderer Stelle betonte er, das einzig gültige physikalische Instrument zur Erkenntnis der Natur sei der Mensch selbst.

Nicht ein endliches erkenntnistheoretisches Ich, sondern die Entelechie, die Kraft der menschlichen Strebensrichtung bestimmt das Wesen. Goethes Leitspruch lautete stirb und werde. Der Faust klingt aus mit dem Satz Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen. Dennoch war sein Ideal nicht expressionistisch, sondern klassisch; von Verkörperung zu Verkörperung schritt er fort, wie ja auch die italienische Reise für ihn das formendste Erlebnis geblieben ist.

Der Weg des Menschen geht durch viele Etappen, die er im Vorhinein nicht wissen kann; Irrtümer, ja Verfehlungen erweisen sich hinterher als notwendige Umwege. Nicht das subjektive Wollen und die Intensität des Strebens bilden das Kriterium des Wertes, sondern dieser liegt in der objektiven Gestaltung. Nur jene Gestaltungen, die in sich selbst überzeugen, haben Bestand und überpersönliche Bedeutung. Sie gehören der Menschheit als Gattung, die damit den natürlichen Gegenpol der Persönlichkeit bildet.

Außer der kantischen Philosophie fand Goethe auch in der Kunst eine Ergänzung seines Strebens: sein Freund Friedrich Schiller, 1759-1805, sah gleich ihm das Wesen des Menschen und der Natur im zweckfreien Spiel. Doch während Goethe die Zweckfreiheit als persönliches Ideal betrachtete und seine Dramen als Verkörperung der ihm innewohnenden Gestalten schuf, bestimmte Schiller den Wert des Theaters in der moralischen Bildung, deren Begriff er von Kant herleitete.

Goethe stand Kant nicht feindlich gegenüber wie etwa der newtonschen Farbenlehre; er erkannte ihn als ergänzenden wenn auch fremden Weg. Über Schiller, der in seiner Jugend stark vom kantischen Denken geprägt wurde, trat er nun in persönliche Beziehung zu dessen objektivem Idealismus, der sich aus dem griechischen Denken und seinem Theater herleitete: durch die Erhöhung des Profanen zum Künstlerischen, durch die Teilnahme an der geistig idealen Welt, gewinnt laut Schiller der Mensch seine wahre Würde. Der pädagogische Sinn von Theater und Dichtung läge darin, durch Erhebung persönlich und seelisch unlösbarer Probleme auf die Ebene geistiger Gestaltung diese lösbar zu machen. Schillers Ideal der Freiheit, wie er es in den Räubern formulierte, bedeutete Rebellion gegen äußeren Zwang. Im Unterschied zu Goethe, der die Probleme in sich selbst suchte und fand, strebte Schiller nach Veränderung der äußeren Umstände. Aus dieser Polarität — die auf künstlerischer Ebene den Gegensatz von Aristoteles und Platon wiederholte, wobei Goethe in seiner Betonung der Entelechie dem aristotelischen Weg mit seinem Sinn für Maß und Proportion folgte, Schiller hingegen zum Platonismus gerade in seiner utopischen Form neigte — entzündete sich nun das Denken der sieben idealistischen Philosophen, die den Stoff ihrer Problematik aber nicht in Goethe und Schiller, sondern in der Kantischen Philosophie fanden. Mit Ausnahme von Nietzsche und Kierkegaard waren sie überzeugt, mit ihrem Werk die kantische Intention zu vollenden.

J. G. Fichte
F.W.J. Schelling
G.F.W. HegelA. SchopenhauerS. Kierkegaard
L. Feuerbach
F. Nietzsche
1762-1814
1775-1854
1770-18311788-18611813-1854
1804-1874
1847-1900
Dialektik des Ich
Dialektik der Natur
Dialektik der GeschichteWille – VorstellungDialektik der Existenz
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Dialektik der Macht

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
9. Das idealistische Denken
© 1998- Schule des Rades
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