Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

9. Das idealistische Denken

Arthur Schopenhauer

Arthur Schopenhauer wurde 1788 als Sohn eines Bankiers und einer Schriftstellerin in Danzig geboren. Er studierte, nachdem er erst auf Wunsch seines Vaters eine kaufmännische Lehrzeit absolviert hatte, seit 1809 in Göttingen Naturwissenschaft, Geschichte und Philosophie und hörte 1811 Fichte in Berlin, dessen Lehre ihn nicht sonderlich befriedigte. 1813 promovierte er in Jena mit der Abhandlung Über die vierfache Wurzel des Satzes vom Grunde. Den nächsten Winter hielt er sich in Weimar auf und kam über seine Mutter in Kontakt mit Goethe, dessen Farbenlehre er annahm, doch auf so eigene Weise weiterentwickelte, dass Goethe seine eigene Lehre nicht mehr wiedererkannte. Gleichzeitig lernte er auch die indische Philosophie, die Upanishaden und die Bhagavad Gita kennen. Aus diesen Wurzeln, Goethe und der indischen Philosophie, vollendete er sein philosophisches System, das er als endgültige Erfüllung des kantischen Ansatzes betrachtete. Zwischen 1814 und 1818 lebte er in Dresden und verfasste sein Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung. 1820 habilitierte er in Berlin und gehörte der Universität bis 1831 als Privatdozent an. Doch war ihm kein Lehrerfolg beschieden, da er seine Vorlesungen zu gleicher Zeit wie Hegel, der damals auf dem Gipfel seines Ruhmes stand, ansetzte, und dessen Philosophie er für baren Unsinn erklärte. Seit 1831 lebte er privat in Frankfurt am Main, wo er 1860 starb.

Schopenhauer war von Anfang an sicher, dass sein System die Wahrheit darstellt. Diese psychologische Sicherheit verstehen wir aus unserer Kenntnis des kosmischen und mythischen Denkens: schon mit der ersten Abhandlung über die vierfache Wurzel des Satzes vom Grunde hatte er den Wesenskreis mit seinen vier Aspekten entdeckt, der ihm die Ruhe der Erkenntnis gewährte.

Grund bedeutete die Voraussetzung des Seins, die Wurzel sowohl der Erkenntnis als auch der Wirklichkeit. Das kantische Ding-an-sich setze er dem indischen Brahman, dem Weltwillen gleich, der im Gegensatz zur assoziativen Vorstellung steht.

  • Das Wollen ist das principium essendi,
  • die Vorstellung als Ursprung des Denkens das principium cognoscendi.
  • Hierzu tritt als Empfindungsgrundlage das principium fiendi
  • und als Triebgrundlage des Fühlens das principium agendi,

wobei Schopenhauer die psychologische Zuordnung wahrscheinlich nicht bewusst war, aber aus dem Text eindeutig hervorgeht.

Grundthese Schopenhauers war der Satz: Die Welt ist meine Vorstellung. Sie wird erkennbar, da sie dem Satz des zureichenden Grundes unterworfen ist. Dieser hat (gemäß dem Wesenskreis) eine vierfache Gestalt:

  1. Bei den anschaulichen, vollkommenen und empirischen Vorstellungen des äußeren und inneren Sinnes erscheint er als Gesetz der Kausalität.
  2. Bei den abstrakten Vorstellungen oder Begriffen und den aus ihnen hervorgehenden Urteilen erscheint er als Grund des Erkennens oder als Gesetz der logischen, materialen, transzendentalen und metalogischen Wahrheit dieser Urteile des Denkens.
  3. Bei dem formalen Teil der vollständigen Vorstellungen oder reinen Anschauungen a priori erscheint er als Grund des Seins, das sich im Raume (Geometrie) und der Zeit (Arithmetik) oder als Gesetz der Lage und der Folge verwirklicht.
  4. Für das Subjekt erscheint er als Grund des Handelns oder das Gesetz der Motivation, also der inneren Kausalität.
Mathematik
principium essendi
Kausalität
principium fiendi




Motivation
principium agendi
Logik
principium cognoscendi

Dieses Schema wird nun im Hauptwerk unter den indisch verstandenen Begriff der Weltursache gebracht, wobei das erste und dritte Buch von der Vorstellung, das zweite und vierte vom Wollen handelt.

  • Das erste Buch beginnt mit dem Satz: Meine Welt ist Vorstellung. Schopenhauer geht von der Gewissheit der Denktätigkeit und ihrem Bilderinhalt aus.
  • Im zweiten Buch objektiviert sich die Erscheinungswelt im eigenen Körper und im Willen. Wille bedeutet für ihn das Erleben der eigenen Energie; der Leib sei nichts anderes als Erscheinung gewordener Wille.
  • Das dritte Buch, im Wesenskreis unter der Funktion des Empfindens, beschäftigt sich mit der Kunst, der Verwirklichung der Idee. Diese sei nur jenen zugänglich, deren Gestaltungskraft sich aus dem dunklen Lebenswillen befreit, im Wesenskreis dem Fühlen und der Triebhaftigkeit.
  • Für diesen letzten Aspekt bringt dann das vierte Buch eine negative Ethik, die der buddhistischen ähnelt: nur durch Abtötung und Überwindung der Lebenstriebe sei die Erlösung zu erreichen.

Erst im Alter wurde Schopenhauer seiner Bedeutung nach anerkannt, was er mit dem Ausspruch quittierte: Der Nil ist nun in Kairo angelangt. Die Wirkung seines Werkes auf seine Zeitgenossen war groß. Doch war sie weniger dem logischen System als vielmehr der Tatsache zu verdanken, dass in ihm die ursprünglichen Bewusstseinskoordinaten nach jahrhundertelanger Verdrängung wieder zur Geltung kamen. So ereignete sich das Paradoxon, dass die scheinbar pessimistische Weltsicht Schopenhauers für viele Menschen eine befriedigende Philosophie des Daseins bedeutete.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
9. Das idealistische Denken
© 1998- Schule des Rades
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