Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

10. Das soziologische Denken

Das dialogische Prinzip

Den Zugang zu dieser Sonderrolle fand Buber über die systematische Philosophie. Er entdeckte, dass die abendländische Tradition und selbst das soziologische Denken gerade jenes Begriffspaar vernachlässigt hatte, das die Grundlage des jüdischen Denkens bildet: das Begriffspaar Ich und Du, im Unterschied zum philosophischen Ich und Es, Subjekt und Objekt. Dieses letztere bestimmte in mannigfacher Abwandlung die europäische Philosophie: als Gegensatz von Wesen und Erscheinung, Essenz und Existenz, Theorie und Praxis, und Gesetz und Freiheit. Selbst dort, wo ein Philosoph das Ich erkannte, setzte er es nicht in Beziehung zum Mitmenschen, sondern zu einem Ding, einem Begriff, wie es Kant in seiner Pflichtenlehre formulierte oder der moderne Staat in seiner Verfassung.

Aus dieser Objektivierung des Daseins geht nicht nur das Du verloren, sondern auch das Ich: ohne Gegenpart kann der Mensch sich selbst nicht finden. Viele suchen daher im mystischen Erleben, im Auflösen des kleinen Ich ihr Heil, andere in der Gnosis, die Buber als magische Begrifflichkeit bekämpfte. Er lehnte Gnosis und Mystik ab: für ihn war das einzige Erleben, das dem Menschen sein Subjekt geben könnte, die Beziehung zum Du. Wäre dieser imstande, das Du wirklich zu erleben, so erführe er gleichzeitig in der Begegnung als Ursprung von Ich und Du den persönlichen Gott. Ich, Du und Gott bilden die einzigen wahren Subjekte der Welt. Wenn der Mensch wirklich Du sagen kann, ist er auch wahrhaft Ich. Und als dieses Ich ist er erlöst: er ist aus der Verhaftung an die Welt der Objekte befreit.

Die Ich-Du-Begegnung als religiöse Erfahrung war für Buber Sinn und Angelpunkt der jüdischen Religion, in ihrer positiven ebenso wie in ihrer zerstörenden Form. Gott offenbarte sich Moses im Dornbusch laut Buberscher Übersetzung als der Ich werde dasein als der Ich dasein werde; also als reine gegenwärtige und zukünftige Existenz. Diese kraftdurchwirkte Existenz ist toto genere verschieden von aller Dinghaftigkeit. Buber lehnte zwar den Wert der Ich-Es-Beziehung nicht ab, doch er fand die Gotteserfahrung nur im Du, und betrachtete die jüdische Überlieferung fortan in dem Licht, dem Menschen und der Welt gegenüber diesem Ursein zum lebendigen Dasein zu verhelfen, zur wahren Verantwortung, die in der Antwort des existentiellen Dialogs mit Gott geboren wird.

Um diesen Ansatz aus der christlichen Überfremdung zu befreien, begann Buber eine Analyse sämtlicher Urworte der hebräischen Überlieferung. Als erstes wandte er sich dem Gottesbegriff zu, der wie erinnerlich in der alttestamentarischen Überlieferung zwei Namen trug: der Plural Elohim und der Singular JHWH. Die Elohim seien Gott als der mächtige Schöpfer, der das Sechstagewerk vollbringt; und JHWH bedeute das Werden im Sein, die Existenz in der Essenz, das ewige Gegenüber des Menschen, das ihn über seine Aufgabe in der Welt belehrt.

Mit dem Schöpfungsakt wurden die schöpfungsmächtigen Elohim in die Welt hineinversenkt; im gleichen Sinn, wie bei Aristoteles die Potentialität und Dynamik nicht dem Pol der Form, sondern der Materie zugeordnet waren. Die spätere chassidische Überlieferung formulierte dies in folgender Weise: Gott habe seine Schechina in die Welt geschickt und dort bleibe sie, bis dass die Welt erlöst ist und das letzte Wesen zu Gott über die wahre Personhaftigkeit gefunden hat. So ist die Aufgabe des Menschen zwischen die zwei Gottespole gesetzt. Hier ähnelt die Bubersche Auffassung der Lehre Spinozas von der natura naturans und der natura naturata, die beide aus einem Ursprung stammen und sich zu ihm zurücksehnen. Diese Vereinigung kann nicht ohne den Menschen geschehen; erst wenn das Königtum Gottes auf der Welt errichtet ist, wird diese ihre Erlösung finden. Alles hängt vom Menschen selbst ab, und die Geschichte ist in ihrem Sosein nicht vorgezeichnet; der Messias als Zeichen der endgültigen Erlösung wird kommen, sobald dereinst kein falscher Gott, keine falsche Subjekthaftigkeit der Dinge auf Erden mehr herrscht.

Die richtige Einstellung zu diesem Gott ist der Glaube. Hier nun wandte sich Buber entschieden gegen die paulinisch-christliche Interpretation. Der griechische Glaubensbegriff pistis bedeutet ein Fürwahrhalten: mit Christus habe sich das Tor von der diesseitigen in die jenseitige Welt geöffnet. Christus werde also als eine Tatsache unter anderen betrachtet, derzufolge wir unser Weltbild abwandeln müssen. Der jüdische Glaubensbegriff Emuna bedeute etwas wesentlich anderes: er zielt auf das stete Ringen um das göttliche Du. Gott ist verborgen. Er lässt sich nicht im Sinne der Wissenschaft oder der systematischen Philosophie bestimmen, hat keinen Platz im System. Seine Offenbarung lässt sich nur an einem Kennzeichen ermitteln: sie zwingt den Menschen zur Antwort, zum Du. Um dieses Du kämpft er sein ganzes Leben, nie kann er seiner gewiss sein. So kann man Emuna mit den deutschen Worten trauen und folgen wiedergeben, niemals aber mit glauben als für wahr halten, das Fürwahrhalten ist sogar der stärkste Gegensatz der Emuna, weil es vorspiegeln könnte, es gäbe den graduellen Unterschied zwischen Objektwahrheit und Gott. Kein Schritt führt von den Tatsachen zur lebendigen Gotteserfahrung, sondern diese erfordert eine neue Einstellung.

Die falsche Interpretation des jüdischen Glaubens in der christlichen Überlieferung sei mit einer anderen Verfälschung verknüpft: der Übersetzung der Tora, des Alten Testaments als Gesetz Gottes. Im Hebräischen heißt Tora Weisung, nicht Gesetz, und Gott wird nicht als Gesetzgeber verstanden wie bei Paulus, sondern als der Lehrer, der mittels seiner Weisungen dem Menschen den Weg zur Duhaftigkeit zeigt. Mit dieser Erklärung der Tora als Weisung wird auch das christliche Dogma der Erbsünde als dem jüdischen Geist fremd dargetan, der Mensch bedarf nicht der Erlösung aus dem Joch des Gesetzes, weil dieses als Weisung den Weg zur Erlösung bestimmt, also nicht statisch, sondern dynamisch zu verstehen ist. Somit ist die Tora auch nicht absolut in ihrer Darstellung gültig: die aufgeschriebene Weisung ist Menschenwerk, die Propheten und Schriftgelehrten können sich geirrt haben. Hierin stand Buber bewusst in einer bestimmten Linie der jüdischen Frömmigkeit, im Gegensatz sowohl zur talmudischen Buchstabengläubigkeit als auch zur kabbalistischen Magie, er fühlte sich als Nachfolger der chassidischen Überlieferung, welche den lebendigen Gott dem schriftlich offenbarten vorzog.

Mit dieser Unterscheidung der jüdischen von der christlichen Tradition leugnete Buber nicht den Wert der christlichen Offenbarung. In ihr zeige sich eine neue Beziehung zur Welt und zu Gott, die vor allem den Einzelnen anginge und weniger die Öffentlichkeit, gemäß dem Ausspruch Christi:

Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.

Christus und seine Kirche erlösen den, der an ihn glaubt, vom Tode, nicht aber die Welt selbst. Gerade diese Erlösung der Menschenwelt, der öffentlichen wie der intimen Sphäre sei die jüdische Aufgabe, die so lange bestehen werde, bis die wahre Gerechtigkeit im Staatsleben erreicht ist. So sei das Christentum eine Frucht am Stamme des Judentums, ein Geschenk für die Menschheit, auf dass der Einzelne auch ohne die öffentliche Gerechtigkeit seine Erlösung finde; die jüdische Aufgabe, die endgültige Errichtung der gerechten Welt Gottes unter seinem wahren Königtum bleibe unbehindert davon bestehen.

Diese Aufgabe ist nicht immer die gleiche: mit der chassidischen Bewegung, deren Höhepunkt zwischen 1750 und 1815 lag, hatte der jüdische Geist eine neue Offenbarung, eine neue Richtung erhalten. Die Darstellung dieser Richtung bedeutet das Hauptwerk Martin Bubers; in ihm vollendete sich der Philosoph als Dichter, der, nach seinen Worten, den Mythos in der Legende verdichtete. Vielleicht die eindrucksvollste der Legenden hat er in seinem Roman Gog und Magog dargestellt: in der Überlieferung Israels war offenbar geworden, dass der Zeit der Erlösung, der Heimkehr nach Israel, die Periode der Kämpfe von Gog und Magog vorausgehen werde. Einer der Führer der Chassidim, der Seher von Lublin, wollte versuchen, mittels seines kabbalistischen Wissens den Himmel zu zwingen, Napoleon als den Gog anzuerkennen. Sein Schüler dagegen, der Heilige Jude von Pzysha, glaubte, dass der Messias und damit die Befreiung Israels aus dem Exil erst kommen könne, wenn alle Juden die innere Umkehr vollzogen hätten. Und obwohl er äußerlich seinem Lehrer gehorsam und treu ergeben blieb, tobte im geistigen Bereich zwischen den beiden ein Kampf. Zum Schluss, so berichtet die Chronik, forderte der Seher seinen Schüler auf zu sterben, damit er ihm die Entscheidung des Himmels mitteile. Im Jahre 1813 starben dann innerhalb weniger Monate alle Beteiligten des Dramas.

Wesentlich für das Verständnis ihrer Aufgabe ist, wie die beiden Gegenspieler gezeichnet wurden. Der Seher von Lublin hatte die Gabe, das Vergangene und das Kommende zu schauen. Da ihm

die Gabe zu schwer wog, beschränkte sie Gott auf sein Flehen auf einen Umkreis von vier Meilen.

Der Heilige Jude zeichnete sich seit seiner Jugend dadurch aus, dass er nie zu den vorgeschriebenen Stunden betete, sondern dann, wenn der Geist ihn bewegte. So versuchte der eine durch sein Wissen Gott zu bezwingen, die Leidenszeit Israels zu verkürzen; der andere sah das Heil darin, sich in den Willen Gottes zu ergeben; zu spüren, wenn der Geist ihn bewegt, und nur aus dieser Begeisterung heraus zu handeln und die anderen zu lehren.

In diesen beiden mythischen Figuren erblickte Buber ein Sinnbild der gegensätzlichen soziologischen Bewegungen, der marxistischen Planungsgesellschaft und der freien Assoziation in proudhonscher Nachfolge, welche nach seiner Übersiedlung nach Israel im Jahre 1938 und besonders nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auch das dortige politische Leben zu prägen begann. Damit hörte aber die Frage nach der Lösung des Gemeinschaftsproblems auf, ein nationales Problem zu sein, und wurde zum Menschheitsanliegen. Die Formen der kommunistischen und demokratischen Vergesellschaftung schaffen keine wahre Rückbindung für den Menschen; im Gegenteil, eine neue Versachlichung und eine neue Bürokratisierung drohen das Ich und Du noch mehr zu ersticken, als es die traditionelle europäische Lebensordnung tat. Daher gelte es heute, auf allen Gebieten des sozialen Lebens die Gesellschaft zur echten Gemeinde im nunmehr überkonfessionellen Sinn zu vertiefen; das Ziel kann nur erreicht werden, wenn das Leben wieder auf Gott als das ewige und ursprüngliche Du geeicht wird. Den Ansatz hierzu fand Buber in der Problematik von Gut und Böse.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
10. Das soziologische Denken
© 1998- Schule des Rades
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