Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

11. Das wissenschaftliche Denken

Okkultismus

Die Einseitigkeit des materialistisch-energetischen Weltbildes rief ein ebenso einseitig spiritualistisches hervor, das seine Kriterien gleichfalls im wissenschaftlichen Denken, also im nachprüfbaren Experiment haben sollte. Die Voraussetzung hierzu war durch einen Denker gegeben, der seine Arbeit als Synthese von Hegel und Schopenhauer betrachtete: Eduard von Hartmann, 1842-1906, der das Unbewusste als Grundbegriff allen Philosophierens bestimmte, welches für ihn den schopenhauerschen Weltwillen und den hegelschen Weltgeist vereinte.

Seine Philosophie des Unbewussten erschien 1867. Darin unterschied er drei Gebiete der Erkenntnis:

  1. Das subjektiv Ideale, die unmittelbare Erscheinungswelt des individuellen Bewusstseins.
  2. Das objektiv Reale, die von der Wissenschaft auf Grund der Erscheinungen erkannte Natur.
  3. Die metaphysisch reale Substanz, das Unbewusste, welches die Philosophie als Grundlage der Natur erschließt.

Diese drei Gebiete seien einzig und allein über die induktive Methode, aber mittels bestimmter Kategorien wissenschaftlich zu ergründen.

Die hartmannsche Kategorienlehre war nicht originell. Doch sein Begriff des Unbewussten gab die Handhabe, ein Gebiet in das Denken einzubeziehen, das seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ein Schattendasein führte: das Okkulte, die parapsychologischen Phänomene, die nun von einer großen Anzahl von Denkern mit wissenschaftlichen Methoden geprüft wurden.

Das Unbewusste erwies sich als heuristischer Begriff. Dank seiner war es möglich, diese Phänomene zu untersuchen, ohne den Boden der Wissenschaft zu verlassen; denn unbewusst heißt ja nur, dass die Dinge in ihrem Wesen noch nicht erkannt sind. Das Hauptaugenmerk der Denker, die bald in den verschiedenen Gesellschaften für psychische Forschung zusammentrafen, waren die Phänomene der Hypnose, der Hysterie und der gespaltenen Persönlichkeit. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte Morton Prince in seinem Buch Dissociation of Personality den Fall einer gewissen Sally beschrieben, bei der verschiedene Seelen abwechselnd den Körper zu bewohnen schienen: eine wohlanständige Person, die sich nach den Maßstäben der bürgerlichen Moral richtete, und eine liederliche, die bösartig gegen die erste auftrat und alle ihre Leistungen zunichte machen wollte. An Hand dieser Phänomene — wozu noch seitens des Colonel Rochas experimentelle Versuche eines Beweises der Seelenwanderung durch Rückführung eines Mediums in tiefer Hypnose durch frühere Existenzen trat — bildeten sich nun drei Schulen heraus: die animistische, welche die Phänomene auf die Psyche der Versuchspersonen, der Medien zurückführen wollte; die spiritistische, die annahm, dass die Versuchsperson tatsächlich von fremden Geistern besessen wird und darin einen Beweis für das Überleben nach dem Tod sehen wollte, und schließlich die parapsychologische, welche die Phänomene der Gedankenübertragung, der Telekinese, des Vorauswissens und dergleichen nach objektiven Kriterien prüfte und zu gültigen Ergebnissen zu kommen versuchten.

Vertreter der spiritistischen Richtung waren Schrenck-Notzing und Sir Oliver Lodge, Anhänger der animistischen Theorie viele Philosophen wie August Messer und Oesterreich, der parapsychologischen Hans Driesch. Nur die letzte Richtung lebt auch heute noch fort und hat ihre Schwerpunkte einerseits in der amerikanischen Duke-University, andrerseits im Institut für parapsychologische Forschung in Freiburg, während die spiritistische Richtung zu einer Sekte geworden ist.

Es ist klar, dass Animismus und Spiritismus mit ihrer deterministischen Weltsicht — sie betrachteten die Seelen als Teile der Energie, die dem Stoff im Sinne der klassischen Physik zugrunde läge — nur bestehen konnten, solange die Naturwissenschaft selbst diese Thesen vertrat. Doch in das geschlossene Weltbild der Jahrhundertwende platzten nun wie eine Bombe die Entdeckungen von Einstein und Planck, die es experimentell — also für die wissenschaftsgläubigen Philosophen in endgültig schlüssiger Weise — aus seinem Grund heraus zerstörten, wobei ihre Entdeckungen durch Rutherford, Marie Curie und Niels Bohr ergänzt wurden.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
11. Das wissenschaftliche Denken
© 1998- Schule des Rades
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