Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

11. Das wissenschaftliche Denken

Einstein - Planck - Bohr

Einstein erkannte, dass die newtonsche Bestimmung von Raum und Zeit als objektiven Gegebenheiten nicht den Tatsachen entspricht; sie sind immer Koordinaten von Ereignissen, die im Sinne der leibnizschen Monade die letzte Wirklichkeit darstellen. Dies erfordert das Raumzeitkontinuum als Träger der Wirklichkeit, was geometrisch nur durch eine vierte Dimension begreiflich wird.

Was ist nun das Kontinuum der unendlich vielen Körper? Wir haben es bereits bei Pythagoras in seiner Lehre von den Dimensionen verstanden: es ist die Anzahl möglicher zeitlicher Beziehungen der Körper zueinander, deren Endlichkeit — so wie der endliche Körper unendlich viele Flächen umfasst — durch die endliche Lichtgeschwindigkeit bestimmt wird.

Energie und Stoff sind nicht Gegenpole im Sinne des klassischen Weltbildes, sondern die Energie ist der Masse und ihrer schwingungsmäßigen Wechselbeziehung zu allem anderen Äquivalent.

E = m c ²

Planck hatte anhand der schwarzen Strahlung festgestellt, dass die Energie nicht kontinuierlich strahlt, sondern immer in diskontinuierlichen Beträgen einer kleinsten Einheit, dem Wirkungsquant h erfolgt. Somit ist die Strahlungsauswirkung zusammen mit der Masse als Gegenpol der quantenhaften Energie zu begreifen, deren letzte Wirklichkeit in den Zahlen liegt.

Nicht alle Energie gerinnt zur Masse, ein kleiner Teil bleibt immer in der Wechselbeziehung zu allen anderen Massen investiert. Diese Wechselbeziehung hat als Basis die Lichtgeschwindigkeit, die das Medium aller Zeiten darstellt, also nicht mit diesen identisch ist; Zeiten lassen sich als Schwingung in ähnlichem Sinne betrachten, wie jene der Töne beim Schall oder die Umdrehung der Erde um die Sonne als Ursprung aller irdischen Zeitmaße.

Aber nicht nur die Energie ist diskontinuierlich; auch die Atome selbst sind keinem kausalen Determinismus unterworfen. Jedes Atom hat, wie Niels Bohr feststellte, eine Struktur von einem Kern und sieben Schalen, in welchen die Elektronen um den Kern kreisen. Dieses Atom ist in ewiger Bewegung, und niemand kann voraussagen, wie es sich verhalten wird. Es mag ein herankommendes Lichtquant aufnehmen, oder auch nicht; und wenn es das Lichtquant absorbiert, so kann es die Energie auf viererlei Weisen verwenden: ein Elektron mag aus einer inneren Bahn verschwinden und in einer äußeren auftauchen; die potentielle Energie des Systems nimmt zu. Die Bewegungsgeschwindigkeit vergrößert sich, das Atom wird wärmer. Das Lichtquant kann als Strahlung wieder abgegeben werden. Und schließlich kann die Energie — im Falle organischer Kohlenstoffverbindungen — elektromagnetisch zur Bildung von Molekülen verwendet werden.

M a s s e - S t r a h l u n gMasse und Strahlung scheinen verschiedene Bewegungszustände zu sein. Im ersten Fall bewegt sich die Energie wellenförmig mit Lichtgeschwindigkeit fort, im zweiten kehrt sie zu ihrem Ausgangspunkt zurück.
Alle Qualitäten lassen sich in der Physik und der Chemie auf reziproke Wechselbeziehung von Masse-Ausbreitung und Energie, Raum und Zeit zurückführen, und sämtliche chemischen Elemente sind in andere verwandelbar, wie die Entdeckung des Radiums von Marie Curie gezeigt hat. Ferner ist sowohl die Energie quantenhaft als auch die Masse wellenhaft zu begreifen: das klassische Weltbild war endgültig zerstört.

Einstein weigerte sich, sämtliche Konsequenzen seiner Entdeckungen anzuerkennen: er wollte wenigstens für die makrokosmische Welt den Determinismus aufrechterhalten. Doch alle seine Versuche scheiterten; eine vollständig neue philosophische Interpretation der Natur bahnt sich an, deren Bedeutung aber den meisten Physikern verborgen blieb, die sich fortan von der Spekulation abwandten und sich auf eine Beschreibung der Raum-Zeitlichkeit beschränkten. Damit war das xenophanische Weltbild, das die klassischen Physiker wiederbelebt hatten, endgültig zerstört; nicht eherne kausale Gesetze, sondern statistische Wahrscheinlichkeiten regieren die mikrophysikalische Welt. Niemals kann daher die quantitative Naturwissenschaft einem Menschen die Sicherheit geben, welche die Denker des späten 19. Jahrhunderts von ihr erwarteten.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
11. Das wissenschaftliche Denken
© 1998- Schule des Rades
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