Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

11. Das wissenschaftliche Denken

Gottlob Frege

Die Lösung brachte der Begründer der Logistik, Gottlob Frege, 1848-1925. Freges Schriften, die in den Neunzigerjahren erschienen, fanden damals nur wenig Beachtung; erst durch Whitehead und Russell wurde sein Werk der Vergessenheit entrissen. Zwei seiner Entdeckungen sollten bahnbrechend wirken: erstens, dass alle Sätze sich mittels einer besonderen Notation auf Ist-Sätze zurückführen lassen; und zweitens, dass den Zahlen ein Eigencharakter zukommt, den die Philosophie seit dem Ende der pythagoräischen Schule vernachlässigt hatte.

Parmenides hatte erklärt, dass die Wahrheit sich allein im Sein von der Unwahrheit unterscheidet. Er beschränkte sie damit auf die prädikativen Sätze, wie sie später im Syllogismus ihren Ausdruck fanden. Die Scholastiker und selbst noch Kant nahmen eine Mehrzahl von Urteilen als Grundlage der Logik an; Wolff hatte den Satz vom zureichenden Grunde dem Satz der Identität und des Widerspruchs beigeordnet. Frege wies nun nach, dass damit logikfremde Elemente in das Urteil eingeführt würden; eine Ableitung aus einer Ursache habe nichts mit Logik zu tun. Ferner zeigte er, dass weder die Subjekt-Objekt-Beziehung noch die Subjekt-Prädikat-Beziehung den logischen Gehalt eines Satzes bestimmen, sondern einzig und allein das Sein; es gelte, jeden Satz in eine Form der prädikativen Aussage aufzulösen. Zum Beispiel der Satz Der Vater starb gestern müsse, um logisch verifiziert zu werden, in folgende Form gebracht sein: Der gestrige Tod des Vaters ist eine Tatsache.

Frege unterschied zwischen Sinn und Bedeutung. Die Frage nach der Wahrheit bezieht sich einzig und allein auf den Sinn; so sei es besser, statt wahr oder falsch sinnvoll oder unsinnig zu sagen. Bedeutung dagegen meint einen Bezug, entweder auf eine Tatsache, wie beim obigen Beispiel, oder auf die Sprachstruktur. Der Satz Grün ist ein Eigenschaftswort wird logisch folgendermaßen bestimmt: Es ist in der deutschen Sprache der Fall, dass die Bezeichnung grün zur grammatikalischen Kategorie des Adjektivs gehört! Grammatikalische Kategorien sind vom Sinn unabhängig; die beiden Sätze Das Blatt ist grün und Das Blatt grünt haben den gleichen logischen Sinn, aber verschiedene Bedeutungen und Hinweise.

Somit ist die Rückführung aller Sätze auf das Sein, auf die Kopula, die Grundlage aller logischen Überlegung. Diese Überlegung betrifft nicht nur die Sprache, sondern auch die Zahlenwelt. In der mathematischen Gleichung ist sie mittels Zahlenzeichen ausgedrückt, bei denen man bestimmte und unbestimmte — eigentliche Zahlen wie 6 und ½, und algebraische Symbole wie a und b, die alle Zahlenwerte bedeuten können — genau auseinanderhalten muss. Der Satz 3 + 4 = 7 entspricht einem verbalen Satz Drei Tische und vier Stühle sind sieben Möbel. Zahlen sind aber nicht, wie es die Einordnung der Zahlworte in die Kategorie der Eigenschaftsworte nahelegt, als Unterabteilung von Worten zu betrachten, sondern haben eine eigene Substantialität. Hier vollzog Frege den gleichen befreienden Schritt in der Logik wie Riemann in der Geometrie: er holte die Zahlen aus der Beschreibungsfunktion in die Sinnfunktion zurück. So wird die Zahl 3 nicht als Eigenschaft dreier Äpfel aufgefasst, sondern als die Klasse aller Dinge, die drei Bestandteile aufweisen und deren Beziehung zeigen; sie ist sowohl der Sinn des Satzes Das sind drei Äpfel als auch der Gleichungen 69 : 23 = 3 und 1 + 2 = 3. Somit ist die Zahl ein Erzeugungsprinzip: im Unterschied zum Wort, das niemals Sinn in sich trägt, sondern nur Bedeutung, hat die Zahl immer den Sinn als ihre Kopula, ihren inneren Zusammenhang. Dieser Gedankengang im Verein mit der Rückführung aller Logik auf Seinssätze führte zum Beginn der logistischen Philosophie. Die Entdeckung von Frege wurde von Russell und Whitehead zur Ausarbeitung ihrer Principia Mathematica verwandt, in der es den Autoren gelang, die logischen Aporien der eleatischen Schule wie den Satz des kretischen Lügners durch eine genauere Form der Beschreibung endgültig zu klären.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
11. Das wissenschaftliche Denken
© 1998- Schule des Rades
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