Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

11. Das wissenschaftliche Denken

Ernst Mach

Die wesentliche Weiterentwicklung des wissenschaftlichen Denkens vollzog sich in der Wiener Philosophie. Ernst Mach, 1838-1916, ursprünglich Naturwissenschaftler, kam aus einer kantischen Anfangsposition, das heißt auf der Suche nach einem befriedigenden kritisch-einsehbaren und nachprüfbaren Modell oder System des Denkens zu ähnlichen Auffassungen, wie sie Hume und die englischen Empiristen vertreten hatten. Für ihn blieben die Sinnesdaten — wie er in seinem Buch Beiträge zur Analyse der Empfindung darlegte — den Ausgangspunkt allen naturwissenschaftlichen Denkens. Eine Unterscheidung von Materie und Geist lehnte er als unbegründet ab. Manchmal sei das Ich mit dem Körper identifiziert und betrachte die Außenwelt als sein Objekt, manchmal seien Körper und Außenwelt zusammen das Objekt einer Innenwelt; manchmal identifiziere sich der Mensch mit einem Teil seiner Psyche und stelle einen anderen, wie etwa den Zorn, dagegen. Nur das Prinzip der Identität als das Verbindende, als Kopula, könne man als praktisches Postulat gelten lassen; alle anderen Unterscheidungen der traditionellen Metaphysik hielten einer Kritik der tatsächlichen Empfindungen nicht stand.

Jede Art der Empfindung — hier kommt nun die eigentliche philosophische Entdeckung Machs — entspreche einer anderen Art von elementarer Wirklichkeit und habe damit auch ein gesondertes mathematisches System. So sei etwa die Haut ein zweidimensionaler Wahrnehmungsfaktor; das stereometrische Sehen unterscheide sich von der mathematischen Dreidimensionalität durch die Zweiheit von Fokus und Raumsehen; für die Gehörswahrnehmung gelte es das entsprechende System überhaupt erst zu erstellen. Mathematische Durchgliederung aller Erfahrungen in ihrer echten Dimensionalität und Systematik sei daher der einzige Weg, zu einer wirklichkeitsgemäßen Denkweise zu kommen. Hierbei gelte es, den physikalistischen Standpunkt in seiner Überbewertung der Tastwahrnehmung gegen Gesicht und Gehör genauso zu vermeiden wie den idealistischen, der falsche Substanzen einführt.

Die inneren Wahrnehmungen, wie sie Georg Elias Müller und Ewald Hering bei den spontanen Farbempfindungen der Netzhaut beschrieben hatten, seien genau so der Wirklichkeit zuzurechnen wie die Gesichtswahrnehmungen, die über Instrumente nachzuprüfen sind. Die Sinne trügen nur bei falschem Gebrauch, die richtig durchgeführte und mathematisch gegliederte Analyse der Empfindungen offenbare die echten Elemente der Wirklichkeit, aus denen sich die Mannigfaltigkeit der Welt als Kombination erschließen lasse. Aufgabe der wissenschaftlichen Philosophie sei daher ein mathematisches Nachzeichnen der einen gegebenen Wirklichkeit, die äußere Wahrnehmungen, innere Wahrnehmungen und Vorstellungen in gleichem Maße umfasst.

Machs Lehre bedeutete eine Wiederherstellung der natürlichen Auffassung auf höherer Ebene, eine Rechtfertigung des naiven Realismus. Seine Lehre im Verein mit der mathematischen Philosophie Freges wurde zum Ausgangspunkt des Wiener Kreises der Zwanzigerjahre dieses Jahrhunderts: Schlick und Carnap gingen die philosophische Problematik so an, als ob es noch nie ein philosophisches Denken gegeben hätte. Alle Metaphysik wurde als Scheinproblematik abgelehnt.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
11. Das wissenschaftliche Denken
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