Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

11. Das wissenschaftliche Denken

Edmund Husserl

Edmund Husserl, 1859-1938, entwickelte aus den Erkenntnissen Bolzanos und Meinongs die phänomenologische Methode, die den Schritt vom Positivismus zur Wesensschau vollzog.

Kant hatte in seiner Kritik der reinen Vernunft erklärt, er betreibe die nötigen Vorbereitungen, auf dass einmal das Gebäude des Systems der Vernunft ohne Irrtum aufgeführt werden könnte. Husserl erlebte seine Methode als Vollendung des kantischen Anliegens, auf die schon Goethe hinwies — man denke an seine Forderung einer Kritik der Sinne, die er im Gespräch zu Eckermann als Erfüllung der philosophischen Erkenntnis vorausahnte. Während die Phänomenologie Hegels sich rein im logischen Bereich bewegte, wollte Husserl die Phänomene selbst in ihrem Wesen erkennen, ohne sie durch Erkenntnistheorie zu verdoppeln. Seine Phänomenologie sucht den Begriffsinhalt der Gegebenheiten des Bewusstseins klarzustellen, indem sie die Begriffe zurückführt auf die ihnen ursprünglich zugrundeliegenden originären Anschauungen. Mit diesen, nicht mit den Ergebnissen der Wissenschaft, habe man die Begriffe zu konfrontieren, indem man sich von dem in der Anschauung gegebenen Einzelnen zur Schau seines allgemeinen Wesens erhebt. Man hört etwa einen Ton. Bei der gewöhnlichen Einstellung nimmt man ihn als etwas individuelles Einmaliges, als ein Diesda wahr. Aber man kann sich an einer solchen Tonwahrnehmung klar machen, was zum Wesen Ton — im Unterschied etwa zu Farbe oder Getast — gehört. Mit diesem Vorgang klammern wir uns vom Dasein ab, wir klammern es gleichsam ein. Indem wir von den empirischen Umständen absehen, in welchen wir den Ton erlebt haben und uns auf seine objektiven Bezüglichkeiten konzentrieren — seine Beziehung zu höheren und tieferen Tönen, seine Klangfarbe und so fort — erkennen wir das Gefüge, in welchem er seinen Ort finden kann und dessen Beziehung zu anderen Gefügen.

Diese letzten Gegebenheiten sind eines Beweises weder fähig noch bedürftig; sie können nur ausgewiesen, zur Evidenz gebracht werden. Alle Versuche, sie zu definieren, geraten in einen Zirkel. Doch mittels dieser Methode können wir alle Begriffe klären, ob diese sich nun auf äußere oder auf innere Wahrnehmungen beziehen. Die Wesenswissenschaften gelten a priori. Wenn sie auch ihre Urteile mit Hilfe empirischer Anschauungen gewinnen, entstammt ihre Geltung dennoch nicht der Erfahrung, also nicht der Induktion. Die Richtung auf die Wesensschau ist toto genere verschieden von der Richtung auf die Tatsachenwelt. Daher sind die Wesenswissenschaften, wenn man sie zur Vollendung bringen kann, als die wahre Philosophie zu bestimmen. Im Vergleich zur herkömmlichen Philosophie enthalten sie nur Trivialsätze, wie etwa die Beschreibung eines Tones nach Stärke, Klangfarbe, Höhe und Tonort. In ihrem Bereich müssten sich auch alle logisch evidenten Wahrheiten einordnen lassen wie Das Ganze ist größer als sein Teile oder Alle Körper sind ausgedehnt.

Husserl betonte die mögliche Bedeutung seiner Wesensschau als Grundlage der Philosophie, blieb aber die Antwort auf die Frage nach deren Gliederbau schuldig. Sein Schüler Max Scheler, 1874-1928, suchte im Anschluss an die Phänomenologie ein System der materialen Ethik — im Unterschied zur formalen Ethik Kants — zu formulieren, scheiterte aber in dem Bemühen, da es ihn zuletzt in einen Dialog mit dem protestantischen und katholischen Bekenntnis als Ausdruck inhaltlich bestimmter Ethik brachte, in dem er zu keiner schlüssigen Antwort kam. Denn die Frage, wie sich nun das System der Wesensschau zur Wirklichkeit und zum menschlichen Handeln verhielte, ließ sich aus der husserlschen Einklammerung der Wirklichkeit nicht beantworten. So führte die philosophische Entwicklung zwangsläufig wieder zurück zum Problem der Existenz, zu einer Wiederaufnahme der Position Kierkegaards, allerdings nicht mehr im idealistisch-theologischen, sondern im wissenschaftlichen Sinn, der in drei verschiedenen Denkrichtungen artikuliert wurde: von Karl Jaspers, Martin Heidegger und Jean-Paul Sartre.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
11. Das wissenschaftliche Denken
© 1998- Schule des Rades
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