Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

11. Das wissenschaftliche Denken

Strukturalismus und Kybernetik

Ausgang des Strukturalismus war die Linguistik, die zur Kulturologie erweitert wurde. Während früher die Ethnologie Vergleiche zwischen gegebenen Kulturen anstellte, versuchen die Strukturalisten, Lévi-Strauss und seine Schule, die Strukturelemente in Sprache, Tradition und Mythologie in einem gegebenen Raum zu untersuchen und die möglichen Permutationen dieser Elemente zu ergründen, sodass sich die tatsächlichen Erfahrungen als eine der möglichen Kombinationen feststellen lassen. Hierbei sind die Strukturalisten letztlich nicht am philosophischen Grund dieser Strukturen, sondern an deren Auswirkung interessiert; der Strukturalismus bleibt relativistisch; die meisten seiner Vertreter bekennen sich zum Marxismus.

Den Abschluss und die Erfüllung fand jedoch das wissenschaftliche Denken in einem ganz anderen Gebiet: in der Kybernetik, die Informationstheorie und Technik vereint und von Norbert Wiener entwickelt wurde. Die Kybernetik brachte eine gänzlich neue Art von Maschinen. Während im 18. Jahrhundert die Maschinen nur als Uhren und ähnliche Automaten Verwendung fanden, wurden sie im 19. Jahrhundert als Verlängerung bestimmter Organe aufgefasst, so die Dampfmaschinen etwa als Verlängerung der Muskelkraft. Für die Maschinen blieb, in uexküllscher Formulierung, die Umgebung Außenwelt; sie standen beziehungslos zur Wirklichkeit. Mit der neuen Steuerungswissenschaft und der Herstellung der ersten Computer wurde dies anders: ähnlich lebendigen Organismen können diese aus Erfahrung im sogenannten Feedback lernen und die gespeisten Daten zu neuen Aktionen und Reaktionen verwenden. Sie ahmen damit die Struktur des menschlichen Großhirns nach mit dem Unterschied, dass sie zwar eine viel geringere kombinative Potentialität besitzen, dies aber durch ungeheure Geschwindigkeit der mathematischen Operationen wettmachen.

Die Grundlage der Computer ist das binärische System, das wir beim I Ging und bei Leibniz kennenlernten. Die meisten der denkerischen Leistungen, die früher ein Prärogativ des Menschen waren, können die Computer schneller und wirksamer vollbringen als jene. Daher glaubten auch manche Kybernetiker wie etwa Johann von Neumann, dass die Maschinen die Herrschaft übernehmen würden, sobald sie sich einmal selbst vervielfältigen vermöchten, was heute bereits denkbar geworden ist. Doch in einem unterscheidet sich die Maschine vom Menschen: in der Programmierung. Was immer mechanisch zu vollziehen ist, können die Maschinen besser leisten. Doch die letzte Zielsetzung, der letzte Einsatz für den Menschen, wie er seine Bestimmung auf Erden erfüllt, das kann sich nicht aus den Maschinen ergeben. Somit sind wir im Denken an einem Wendepunkt der Geschichte angelangt: es erweist sich gerade durch die Kybernetik als etwas ganz anderes, als bisher vermutet wurde. Nur die schöpferische Tätigkeit des Menschen ist der Maschine überlegen.

Damit wird das schöpferische Denken von einem Prärogativ weniger Einzelner im Sinne der Romantik und Nietzsches zur allgemein menschlichen Kondition, und die Frage, wie der Mensch schöpferisch werden kann, um der technischen Welt gewachsen zu sein, wird zum Grundproblem unserer Zeit: nur schöpferisch kann er seinen Zauberlehrlingen überlegen bleiben und einen Sinn, eine bewusste Kontinuität im Leben finden. Damit treten wir aber aus dem wissenschaftlichen Denken heraus und kommen zum Jetzt und Hier der menschlichen Existenz, das das Thema des letzten historischen Denkstils gebildet hat.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
11. Das wissenschaftliche Denken
© 1998- Schule des Rades
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