Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

12. Das ganzheitliche Denken

Evolution

Im Jahre 1859 erschien Charles Darwins Buch Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl. Darin wurde die Theorie vertreten, dass die Arten und Gattungen der Lebewesen sich nicht nach einem vorgegebenen Plan des Schöpfers entwickelt hätten, sondern durch Anpassung, Kampf ums Dasein und Überleben der Tüchtigsten. Schon vorher war der historische Horizont durch die geologischen Entdeckungen weit gegenüber den sechstausend Jahren der biblischen Geschichte zurückgedrängt worden, und die Idee eines allmählichen Aufstiegs der Arten über die Naturreiche war sowohl von der indischen Jainalehre als auch von der empedokleischen Philosophie, ja selbst von der leibnizschen Monadologie vertreten worden. Ausdrücklich wurde der Gedanke von der Evolution das erste Mal von Condorcet im 18. Jahrhundert als Grundlage der Philosophie verwandt und diente Herbert Spencer, 1820-1903, als Leitfaden einer umfassenden Wissenschaftssynthese, bei der er die Kausalität zum entscheidenden Faktor erklärte, welche die Vorsehung des Schöpfers ersetze. Darwins Werk wirkte jedoch viel umwälzender, da es im Gegensatz zur christlichen Lehre verstanden wurde: erstens durch seine These, dass Mensch und Menschenaffe aus der gleichen biologischen Wurzel stammten, und zweitens durch seine Erkenntnis, dass sich die Arten dialektisch im Kampf gegeneinander entwickelt haben, indem solche, die nicht mehr konkurrenzfähig waren, ausstarben und andere ihre Rolle im Haushalt der Natur übernahmen.

Soziologisch wurde die Evolutionstheorie sowohl von den amerikanischen und englischen Liberalisten in Anspruch genommen — die Kapitalisten der Gründerzeit rechtfertigten ihre Handlungen als Ergebnis der natürlichen Selektion im Kampf ums Dasein — als auch durch Marx, der die kommunistische Ordnung als Endziel der Evolution betrachtete. Biologisch gab die These die Möglichkeit, die Natur unter Einschluss des Menschen als eine Ganzheit zu betrachten, von der jedwedes Lebewesen, aber auch die anorganische Materie einen zu integrierenden Teil darstellt. So bot sich die Biologie seit Darwin und Spencer als Grundphilosophie an. Im akademischen Bereich trat ihre Richtung als die vitalistische in Auseinandersetzung mit der physikalistisch-mechanistischen des wissenschaftlichen Denkstils, welcher das Grundprinzip in der Materie suchte. Der Kampf zwischen diesen beiden Richtungen — ob das Leben oder die Materie der Ursprung der Wirklichkeit sei — ging bis zur Gegenwart mit unverminderter Heftigkeit weiter.

Bedeutsamer als diese Auseinandersetzung war aber die Entdeckung der Erbgesetze durch Gregor Mendel. Bis ins 18. Jahrhundert hatte man geglaubt, der menschliche Same berge in sich gleichsam einen Homunculus, einen Miniaturmenschen, der dann im Mutterleib zum vollen Menschen ausreife. Caspar Friedrich Wolff (1759) und Karl Ernst von Baer (1827) wiesen nun nach, dass weder Keimzellen noch Embryonen Miniaturerwachsenen ähnlich sähen. Ferner hatte Ernst Heinrich Haeckel in seinem Biogenetischen Grundgesetz postuliert, dass der menschliche Organismus die biologische Geschichte des Lebens im Mutterleib wiederhole, sodass er zu einem bestimmten Zeitpunkt einem Fisch ähnlicher sei als dem späteren Menschen. Gregor Mendel entdeckte nun vor der Jahrhundertwende, dass die Vererbung klar zu bestimmender Eigenschaften einem arithmetischen Schlüssel folge, wobei manche Eigenschaften dominant, andere rezessiv seien. Mit der Entdeckung der Chromosomen wurden die Erbträger in den Genen lokalisiert, auf denen sie gleich Perlenschnüren aufgereiht sind. Jede Art von Lebewesen hat eine andere Anzahl von Chromosomen im Zellkern. So weist die menschliche Zelle sechsundvierzig auf und die Geschlechtszelle, da weibliches Ei und männlicher Same sich in der Befruchtung zur Urzelle vereinen, dreiundzwanzig Chromosomen.

Zu ihrer Zeit wurden die mendelschen Entdeckungen wenig beachtet. Als sie aber nach 1900 wieder bekannt wurden, leuchtete ihre Bedeutung in Analogie zu den Entdeckungen der Mikrophysik allgemein ein: gleich der chemischen Materie besteht auch jedes Lebewesen aus bestimmten Grundelementen, deren Kombination für die Sonderart des einzelnen Individuums verantwortlich ist.

Der Mechanismus der Vererbung wurde in den nächsten Jahrzehnten eingehend studiert. Während Mendel noch symbolische Gene annahm, wurden in den Arbeiten der Morganschule vor allem bei der Taufliege zwischen 1910 und 1935 einzelne Gene auf den Chromosomen lokalisiert. Die entscheidende Entdeckung kam jedoch erst 1953: alle Gene sind aus vier Formen der Desoxyribonuclein-Säuren (DNS) zusammengesetzt, den Nukleotiden Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin. Diese tragen als Information, als Code die Erbanlagen. Hierbei sind es nicht die Zellkerne selbst, die ja stofflich immer wieder erneuert werden müssen, sondern es ist die mathematische Struktur, die bestimmte kombinatorische Ordnung der vier Buchstaben des Erbalphabets, welche im Rahmen von genau vierundsechzig Kombinations­möglichkeiten — also in Parallele zum I Ging — immer neue Zellen nach ihrem Urbild formt und für die Kontinuität des Organismus im Keimplasma verantwortlich ist.

Nun entwickelt sich der lebendige Organismus einerseits durch das Erbe, andrerseits durch Umwelteinflüsse bedingt. Lamarck vertrat schon zu Darwins Zeiten die Vererbung erworbener Eigenschaften, und jüngste Versuche scheinen dies zu bestätigen, sodass die Deutung Darwins aufgegeben wurde. Doch damit ist das Problem der Bedeutung der Umwelteinflüsse — beim Menschen des kulturellen Milieus — noch nicht gelöst. Den denkerischen Ansatz zur Lösung brachte Wilhelm Johannsen 1911 mit seiner Unterscheidung von Genotypus und Phänotypus:

  • Genotypus ist die Erbstruktur und
  • Phänotypus das Bild, wie sich der Organismus wechselnd in seinen verschiedenen Perioden von der Jugend bis zum Alter darstellt.

Doch mit dem Genotypus ist die vitale Bedingtheit noch nicht erschöpft: es treten bei Tier und Mensch die Triebe hinzu. Hier erkannte nun ein anderer Zweig der Biologie, die Verhaltensforschung, dass sich die Triebstruktur auf die Kombination von vier grundsätzlichen Richtungen zurückführen lässt: Geschlechtstrieb, Aggressionstrieb, Nahrungstrieb und Sicherungstrieb. Hiervon sind zwei, Geschlechtstrieb und Aggressionstrieb, auf die eigene Art bezogen; der Aggressionstrieb, der für die geschlechtliche Selektion verantwortlich ist, sorgt für Verteilung der Individuen im Raum. Nahrungstrieb und Sicherungstrieb hingegen sind auf fremde Arten und Gattungen gerichtet. So lässt sich die Ordnung der Triebe im Wesenskreis veranschaulichen:

Geschlechtstrieb
wollen
Sicherungstrieb
empfinden



fühlen
Nahrungstrieb
Aggressionstrieb
denken

Die Verhaltensbiologen bemühten sich, die Ähnlichkeit von Mensch und Tier aufzuzeigen. Ein anderer Biologe zeigte den Unterschied zwischen beiden: Jakob von Uexküll erklärte, dass jedes Tier einem ganz bestimmten Ausschnitt der Natur als seiner Merkwelt zugeordnet sei, die seinen Lebensrahmen ausmacht; Arten, die nicht in seinen Triebrahmen fallen, bemerkt es nicht. In diesem wird es von seinem Instinkt, gleichsam einer Gruppenseele gesteuert. Der Instinkt ist jenseits der Individualität und Familie; so berichtete Gert von Natzmer aus Afrika, dass bei einem großen Löwe-Sterben im Osten sich plötzlich die Geburtenanzahl im entfernten Westen ohne Grund derartig erhöhte, dass das Gleichgewicht wieder hergestellt schien. Der Mensch dagegen, so behauptet Uexküll, sei nicht einer Merkwelt, sondern der Umwelt, der Totalität der Wirklichkeit zugeordnet und könne nicht seinen Instinkten vertrauen. Der Kosmos, das Universum stelle sein Lebensmilieu dar, welches sich definitionsgemäß so weit erstrecke, wie seine Wahrnehmungsfähigkeit reicht; und in diesem Kosmos müsse er sich seine Orientierung durch die Ausbildung seiner Vernunft selbst schaffen. Doch das will nicht heißen, dass der Mensch der Natur fremd ist. Julian Huxley interpretiert die erstaunliche Tatsache, dass in den letzten fünfzig Jahren ohne menschliche Mitwirkung mehr Säugetierarten ausgestorben sind wie im davorliegenden Zeitraum seit der letzten Eiszeit dahingehend, dass wohl die Menschheit jetzt biologisch im Haushalt der Natur ob ihrer ungeheuren Vermehrung die Rolle dieser Tiere übernehmen müsse, wobei er launig bemerkt, dass schon heute der Unterschied zwischen einem Politiker und einem Philosophen wohl ebenso groß sei wie zwischen einem Wolf und einem Elefanten.

Uexkülls Umwelttheorie blieb eine negative Definition der Rolle des Menschen in der Natur. Die positive Bestimmung kam aus zwei anderen Richtungen des ganzheitlichen Denkens: aus der Lebensphilosophie Henri Bergsons und aus der neubegründeten Tiefenpsychologie von Sigmund Freud, Alfred Adler und Carl Gustav Jung.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
12. Das ganzheitliche Denken
© 1998- Schule des Rades
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