Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

2. Das mythische Denken

Das mythische Denken der Widderzeit

Das mythische Denken unterscheidet sich wesentlich vom kosmischen: während das letztere sich im Rahmen der drei Konstituenten Tierkreis, Himmelskörper und Weltenjahr bewegte, konzentriert sich das mythische Denken auf ein freies Spiel der Faktoren oder Komponenten ohne direkten Bezug auf die kosmischen Raum-Zeit-Koordinaten. Um es deutlicher zu veranschaulichen: die ägyptischen Chroniken, ganz dem kosmischen Denkstil zugehörig, berichten oft nicht, was tatsächlich geschah, sondern was in einem bestimmten Zeitabschnitt zufolge der kosmischen Thematik hätte geschehen sollen; das mythische Denken ergänzt dagegen die tatsächlichen Vorkommnisse durch mythische Vorstellungen zu Sagen.

Mythisches Denken und kosmisches Denken haben einen verschiedenen Schwerpunkt im Wesenskreis. Das letzte kosmische Denken der Stierzeit ordnet die Vorkommnisse und Vorstellungen nach beobachteten astronomischen Bewegungen am Himmel; es entstammt also der Wachwelt, aus der es Traumwelt, Mythos und Geschichte interpretiert, ja sogar manchmal willkürlich verwandelt. Das mythische Denken der Widderzeit dagegen geht von der Mana-Kraft des Symbols selbst aus und verfolgt dessen Entfaltung bis in alle seine Verästelungen, seien diese nun rational einsichtig als durch Erfahrung nachprüfbare Gesetze, oder seien sie auch nur mögliche Ergänzungen aus der Traumwelt; und es richtete das Leben nach diesen Vorbildern ein, wobei die kosmische Symbolik eine untergeordnete Rolle spielt genau wie beim kosmischen Denkstil der reine Mythos ergänzend mitwirken konnte. Dies erklärt sich einerseits dadurch, dass die Mächte des triebhaften Unbewussten schon weitgehend die Herrschaft verloren hatten; so musste man ihnen nicht mehr mit der gleichen Angst begegnen, von ihnen weggeschwemmt zu werden, wenn auch diese Gefahr, wie wir vor allem bei den dionysischen Kulten des griechischen Mythos beobachten werden, immer noch nahe lag. Andrerseits aber müssen wir uns daran erinnern, dass die mythischen Bewusstseinsinhalte von Natur aus stärker sind als die rationalen, traumhaften oder durch Erfahrung gebildeten; denn es ist ja das Wesen des Mythos, intensiver zu wirken als der Lebenserhaltungstrieb.

Schon während der Zeit seiner unumstrittenen Herrschaft wechselte der Schwerpunkt im kosmischen Denkstil nach Maßgabe der Zeiten: in der Krebszeit mit dem Schwerpunkt auf dem seelischen Fühlen und der Familie war die Ordnung der Einbildungskraft und der Traumwelt im Vordergrund; der Jahreskreis wurde als Sinnbild des mythischen Erlösungswegs verstanden. In der Zwillingszeit ordneten die Kalenderkulturen der Stämme das tatsächliche geschichtliche Leben der Schwerpunkt lag im geistigen Denken, also der mathematischen Erfassung der tatsächlichen und kausalen Zusammenhänge in den Rahmen der kosmischen Koordinaten ein. In der Stierzeit, Körper-empfinden, war die bewusste Durchdringung der Wachwelt im Vordergrund und die Erscheinungen wurden als Weltalphabet verstanden, mittels dessen der Mensch die Erde in sein eigenes Milieu umgestaltet und sozusagen den Kosmos als künstlerische Kulturform auf die Erde versetzt; durch die Erfindung der Schrift wurde die Wachwelt völlig verselbständigt. In der anbrechenden Widderzeit erwiesen sich die Symbole nun stärker als alle Wachwelt, rissen den Menschen nach ihrem eigenen Impetus auf ähnliche Weise mit wie einst die Welt der Triebe. Und so begann er nach einem Ursprung hinter dem Mythos Ausschau zu halten, welcher sich sowohl als Schöpfer und Ursache der Welt als auch seiner selbst erweisen möchte. Es begann die Suche nach der Transzendenz: nach einem Quell, der jenseits des Kosmos gelegen wäre und ihn aus dessen Schicksalszwang zu befreien vermöchte.

Wir erwähnten schon die Bedeutung des biblischen Bildes vom Turmbau zu Babel: es gab nicht nur eine, sondern viele Möglichkeiten, städtisch-sprachliche Kulturen zu entfalten. Und da das neue mythische Bewusstsein in diese verschiedenen Sprachkreise einbrach, hat es zur Ausbildung ganz verschiedener Mythenkreise geführt, die sich fortan unabhängig voneinander, wenn auch getragen vom gleichen kosmischen Koordinatensystem, entwickeln sollten: der chinesische Mythos, der indische, der israelische und der griechische, wozu noch als für die europäische Entwicklung weniger bedeutsame Ausprägungen der iranische, der mongolische, der germanische und der finnisch-ugrische Mythos getreten sind.

Die Widderzeit im Weltenjahr reichte von 2300 bis 200 v. Chr. In diesem Zeitrahmen haben alle mythischen Kulturen ihre Ausprägung gefunden, die sie zum Teil bis tief in die christliche Zeit, ja manchmal selbst bis in die jüngst vergangene Periode beibehalten haben. Wir wollen diese nun in ihrer systematischen Grundlage im einzelnen untersuchen.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
2. Das mythische Denken
© 1998- Schule des Rades
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