Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

12. Das ganzheitliche Denken

Teilhard de Chardin

Der letzte ganzheitliche Denker, Pierre Teilhard de Chardin, bemühte sich, beide Wurzeln der Kultur in ihrem Sosein zu erkennen und damit die Rolle des Menschen in der Welt sowohl biologisch als auch religiös zu bestimmen.

Teilhard de Chardin, 1881-1955, der Geologie und Biologie studiert hatte, gehörte dem Jesuitenorden zu. Seine entscheidende Entwicklung erfolgte in China, wo er dreißig Jahre weilte und im universistischen Geiste eine mögliche Versöhnung von Naturwissenschaft und Religion erahnte. Bekanntlich wollte er die These der Evolution mit der Tradition der Kirche versöhnen. Doch Teilhard ging dieses Problem nicht als biologischer Darwinist an, sondern er strebte nach einer Synthese, von welcher die katholische Lehre und die Evolutionstheorie komplementäre Aspekte darstellen würden. In diesem Sinne interpretierte er den biblischen Schöpfungsbericht, indem er eine Schilderung der geologischen Stadien der Erdgeschichte vermutete, von der Erschaffung des Lichtes als Ursprung allen Lebens am ersten Tag bis zur Erscheinung des Menschen am sechsten Tag, und vor allem der Geburt eines neuen Bewusstseins — der Fähigkeit der Überlegung und der Entscheidungsfreiheit — im Zeichen der göttlichen Ruhe des siebten Tages.

In dieser Schau wurde der Mensch nicht mehr, wie seit der alexandrinischen Gnosis, in Gegensatz zur Natur gestellt, sondern galt gleichsam als ihr integrierender Faktor. Doch Teilhard zog seine Schlüsse noch weiter: diese Möglichkeit der freien Willensentscheidung und der Reflexion wäre schon seit Beginn der Schöpfung deren Ziel gewesen, in dessen Licht allein man die verschiedenen Stadien der Naturreiche verstehen könne. Schon um das Atom zu begreifen, müsse man seine Zielstrebigkeit auf den Kohlenstoff als Urbaustein des organischen Lebens erkennen. Und die Sprünge, die Mutationen, die wir in der geologischen Geschichte immer wieder beobachten, bilden sie nicht einen unumstößlichen Beweis für die Tatsache, dass die Natur eine bewusste Schöpfung ist, welche von Anfang an auf die Erscheinung des Menschen hinzielte?

Um Missverständnisse zu verhüten, bezeichnete sich Teilhard als Pantheisten, wohl darüber bewusst, dass diese These ihn in Gegensatz zur herrschenden Dogmatik brachte. Doch war seine Vorstellung der Gottheit keineswegs immanent und pantheistisch im häretischen Sinn, sondern transzendent: die Schöpfung war für Teilhard das Werk und keineswegs die Emanation des persönlichen Schöpfergottes. Den Beginn dieser Schöpfung bezeichnete er als den Punkt Alpha der Evolution, in deren Endstadium der Mensch dereinst, in der Entwicklung seines Bewusstseins zur Reife, den persönlichen Gott wieder erreichen wird. Dieser Zielpunkt Omega der natürlichen Evolution sei in der christlichen Offenbarung vorgegeben. Religion beziehe sich nicht auf die Vergangenheit, sondern auf die menschliche Zukunft, auf den möglichen Weg zur Erreichung der Ganzheit oder des Heils. Daher könne es auch keinen Widerspruch zur Wissenschaft geben, deren Gebiet definitionsgemäß auf Gegenwart und Vergangenheit beschränkt bleibt.

Um die menschliche Bestimmung zu verstehen, bedeutet es letzten Endes das Gleiche, ob man die natürliche Evolution beschreibt oder der Offenbarung folgt. Gott, Ursprung der Schöpfung und Endziel der Evolution, offenbare sich den sehenden Menschen auf allen Stufen der Natur.

Doch die Evolution verläuft nicht gradlinig und kontinuierlich; — sie vollzieht sich in Sprüngen über die Mutationen. Um die Stufe der freien Willensentscheidung und Reflexion — des siebten Tages — zu erreichen, wo erst natürliche Entwicklung und religiöse Offenbarung zusammentreffen, müsse der Mensch eine Wandlung seines Bewusstseins durchmachen, eine echte Metanoia. Laut Teilhard ist die Notwendigkeit für diese Mutation, welche von jeher das religiöse Anliegen gebildet hat, in unserer geschichtlichen Epoche unausweichlich geworden. Um in der neuen technischen und industriellen Zivilisation, in welcher erst sich das dem Adam gegebene Versprechen Gottes erfüllt hat, dass er Herr der Natur sein werde, sinnvoll leben zu können, müsse der Mensch auch die letzten Überbleibsel des heteronomen tierischen Instinktes ablegen, unter dessen Herrschaft noch heute ein großer Teil der Menschheit dahinlebt. Er sollte bewusst den Weg zur Vermenschlichung, zur Hominisation einschlagen, um die menschliche Zivilisation, die bis heute nur am Rande der Natur besteht, in eine Noosphäre zu verwandeln, welche sich dem organischen Leben integriert wie die Atmosphäre der Erde. Die Hominisation, die Schaffung der Noosphäre als wahres menschliches und daher auch göttliches Milieu werde aber eine Gesellschaftsordnung jenseits aller bisherigen regionalen Kulturen bilden und eine Synthese des Lebens bringen, reicher als je eine bestanden hat: die wahre ökumenische Menschheitskultur als Endziel und Vollendung der historischen Zivilisation.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
12. Das ganzheitliche Denken
© 1998- Schule des Rades
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