Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

2. Das mythische Denken

Shaivas - Vaishnavas - Yoga

Die drei hinduistischen Religionsgemeinschaften gliedern sich nach den erwähnten drei Strebenszielen:

  • bei wem Kama überwiegt, der kann Gott nur dann nachstreben, wenn ihm dessen Erleben als ein Genuss höherer Intensität erlebbar oder erhoffbar erscheint als die körpersinnliche Erfahrung. Da die Guna Tamas den Ausschlag gibt, ist dieser Weg an Übungen gebunden, die nur von Meister zu Schüler zu übertragen sind und deshalb geheim gehalten wurden. Vor allem im tantrischen Weg des sogenannten Yoga der linken Hand strebt der Adept danach, sich jede einzelne der Schöpfungskräfte oder jeden der Götter in seinem Organismus im nacheinander dienstbar zu machen. Der Yoga der rechten Hand dagegen, der in Ishvara einen männlichen Gottesbegriff hat, gehört einer späteren Stufe des Denkens zu; wir werden noch darauf zu sprechen kommen.
  • Die zweite Gruppe, bei der psychischen Artha, die Sehnsucht nach Macht und Wohlstand überwiegt, hat den Weg des Weltenerhalters Vishnu erwählt, Bhakti als liebende Devotion. Die Sehnsucht nach Macht hat ihren Ursprung im Sozialgefühl, dessen Läuterung die Liebe darstellt; der Adept dieses Weges verehrt die Heiligen und ahmt sie nach, bis dass er sich ihnen angeglichen hat.

Der Vaishnava folgt gehorsam seinem Vorbild und Lehrer, seinem Guru. Doch die wahren Vorbilder sind die Inkarnationen Gottes auf der Erde: jedesmal wenn der Weg, das Dharma oder die menschliche Bestimmung in der Wirrnis der Zeiten verloren geht, offenbart sich Gott auf neuer Stufe; es gilt dieser letzten Offenbarung zu folgen und ihren Sinn zu erkennen.

Die Zahl der Offenbarungen ist begrenzt; die Vaishnavas nehmen zehn Inkarnationen für ein Weltalter an. Hierbei gehörten die ersten Inkarnationen Vishnus zur vormenschlichen Evolution der Erde, so der Fisch und der Eber. Die siebte und achte Inkarnation waren bereits sagenhafte Religionsschöpfer: Rama, dessen Frau Sita vom Dämonenkönig Ravana aus Ceylon entführt wurde, und der als Herr des Totenreiches gilt; seine Geschichte beschreibt das Epos Ramayana des Dichters Valmiki; und Krishna, der während der Schlacht von Kuruk Shetra im anderen großen Epos Mahabharata dem Arjuna den Sinn des Lebens in den achtzehn Gesängen der Bhagavad Gita erklärt; in diesem Werk sind die indoarischen Mythen mit der Jaina-Naturphilosophie und der dravidischen Evolutionslehre zu einer systematischen Einheit verschmolzen.

Evolution und geistiger Weg fielen bei den bisherigen Inkarnationen auseinander; wer um die Sorgen der täglichen Existenz zu kämpfen hatte, fand kaum Zeit, sich um seine geistige Entwicklung zu kümmern. Damit der geistige Weg nicht verloren gehe, hat Manu laut Überlieferung der Vaishnavas die Gliederung nach Kasten eingeführt. Ursprünglich dem kosmischen Denken entnommen, sind diese Ausdruck der verschiedenen Lebensalter. Der Wesenskreis wird hier als Lebenskreis mit einer Spanne von vierundachtzig Jahren verstanden, so dass jeder Mensch einundzwanzig Jahre im Zeichen eines Quadranten verbringt.

I n d i s c h e r - L e b e n s k r e i s

  • Im ersten Quadranten bemüht sich der Mensch als Brahmacharya, als keuscher Schüler, die Lebensformen und Pflichten in Gehorsam gegenüber seinem Lehrer zu erlernen; sein oberstes Ziel ist gleichsam das Bestehen der Prüfung. In diesem Lebensabschnitt ist er noch nicht selbständig, sondern von anderen abhängig; sein Lebensstil hat später in den Shudras der untersten Klasse unterhalb der Kasten, die noch keine geistige Bestimmung kennt seinen Ausdruck gefunden.
  • Wenn der Mensch die Prüfung bestanden hat, so wird er in den geistigen Sinn der Existenz eingeweiht und erreicht die zweite Geburt. Nun handelt es sich für ihn darum, im zweiten Abschnitt zwischen 21 und 42 Jahren seine wirtschaftliche Selbständigkeit zu finden. Dieses Lebensalter wurde zum Vorbild der Kaufmannskaste, der Vaishyas.
  • Ist er selbständig geworden und sind seine Stellung und Familie gesichert, so kommt als nächste Aufgabe zwischen 42 und 63 Jahren die Sorge für die Gerechtigkeit in der Gemeinschaft, der Einsatz aller Kräfte für die Mitmenschen. Diese Periode hat ihre Verkörperung in der Kriegerkaste, den Kshatriyas gefunden, deren Pflicht als Kämpfer und Beamte der Schutz und die Verwaltung des Gemeinwesens bildete.
  • Hat der Mensch nun seine Gemeinschaftspflichten erfüllt und ist er Großvater geworden, dann sollte er sich aus der Welt zurückziehen und nur noch seiner geistigen Bestimmung widmen. Doch dies bedeutet nicht unbedingt Einsamkeit: als Lehrer wird er die anderen im Sinn des Lebens, in Dharma unterweisen. Dieses Lebensalter nach 63 Jahren hat seine Verkörperung in der Kaste der Brahmanen gefunden.

Auch die heiligen Schriften sind nach den vier Prinzipien interpretierbar:

  • der Jüngling, der Brahmacharya, lernt sie auswendig;
  • der Haushälter vollbringt die vorgeschriebenen Opfer;
  • der Beamte sorgt dafür, dass die Gemeinschaft nach ihren Anweisungen geordnet bleibt,
  • und der Brahmane kümmert sich um das Verstehen ihres Sinnes.

Zur Zeit Manus war der Überlieferung nach die Zerstörung der alten Form so weit fortgeschritten, dass niemand mehr alle vier Stufen in einem Leben durchlaufen konnte. So kam es zu der Auffassung, dass der Mensch in seinem Leben an eine Kaste gebunden bleibt und nur einen Pflichtenkreis erfüllt; erst mit der nächsten Inkarnation kann er in die höhere Kaste aufsteigen, oder bei Nichterfüllung in eine niedere, ja sogar untermenschliche Form absinken. So hängt die geistige Entwicklung des Menschen nach der Lehre der Vaishnavas einzig und allein von dessen persönlicher Anstrengung ab.

Mit der neunten, für unser Zeitalter erwarteten Inkarnation Vishnus wird eine Vereinigung von geistiger Läuterung und natürlicher Evolution erwartet. Sie soll im Zeichen des Gottes des Rades und der Technik Jagganath erfolgen, wie der Mythos des Tempels in Puri berichtet. Die Ikonographie zeigt diese Inkarnation schwarz, kindlich und mit kleinen Ärmchen. Der Mythos berichtet die Entstehung dieses Bildes: der Gott der Technik sei vom himmlischen Schmied auf Wunsch eines Königs gefertigt worden, unter der Bedingung, dass dessen Frau ihm nicht bei der Herstellung zuschaue. Doch ihre Neugier war so stark, dass sie nach tausend Jahren Wartezeit ein Loch in den Berg bohrte, in welchem der Schmied arbeitete. Als ihr Auge die Figur erblickte, stellte der Schmied die Arbeit ein: daher ist die Gestalt unvollendet. Hiermit wird die Tatsache umschrieben, dass die menschliche Erfindungsgabe nach einem kurzen Beginn in der Zwillingszeit zum Stillstand kam und erst heute wieder ihre Entwicklung aufgenommen hat. Erst über das technische Denken kann auch der werkzeugschaffende Mensch, der Arbeiter, seinen geistigen Entwicklungsweg begehen. Damit werden die Kasten überflüssig, da die Technik es jedem ermöglichen wird, Zeit für seine Läuterung zu finden.

  • Die dritte hinduistische Religionsgemeinschaft hat den Gottesbegriff Shiva. Seine Adepten, die Shaivas, können mit der Devotion und auch dem Glauben nichts anfangen; nur die Erkenntnis führt zum Heil; ja die Moksha, die Erlösung wird mit der echten Erkenntnis gleichgesetzt. Daher stehen hier die Schriften, und seit dem Mittelalter die philosophischen Systeme, im Vordergrund der Bemühung.

Die Grundlage des Brahmanismus ist der Veda, das heißt heiliges Wissen. Er gliedert sich in vier Hauptteile: Rig-Veda, Sama-Veda, Yajur-Veda und Atharva-Veda.

  • Der Rig-Veda enthält die Hymnen, mit welchen der Priester die Götter zum Opfermahl einlud;
  • der Sama-Veda die Lieder, welche in bestimmten Melodien beim Opfer gesungen wurden,
  • der Yajur-Veda die Sprüche, die bei den heiligen Handlungen herzusagen waren,
  • und der Atharva-Veda hauptsächlich Zaubersprüche.

An jeden dieser vier Veden schließen sich Erläuterungsschriften an, deren wesentlicher Teil durch die 108 Upanishaden, die Geheimlehren der Weisen vom Himalaya gebildet wird. Diese Upanishaden sind es nun, auf die sich das Augenmerk der Shaivas im mythischen Denken konzentriert hat; sie enthalten die verschiedenen Wege der Erlösung und die metaphysischen Prinzipien, wie wir sie im vorigen geschildert haben.

Fassen wir nun die Religionsgemeinschaften und Wege zusammen, so ergibt sich folgende Ordnung der Entsprechungen:

Gott
Shiva
Vishnu
Brahma
(Shakti)
Guna
Sattwa
Rajas
Tamas
Trieb
Moksha
Artha
Kama
Weg
Jnana
Bhakti
Tantra
Gemeinschaft
Shaivas
Vaishnavas
Yoga

Auf allen indischen Wegen bildet die Wandlung des persönlichen Menschen, die Befreiung, das Ziel. Diesem Ziel sind auch die indogermanischen Sagen untergeordnet worden. Die Figuren sind die gleichen wie bei den Griechen oder Germanen; die Mahabharata hebt gleich dem Ursprung der Herakliden mit fünf Brüdern an. Doch schildert sie die Heldenkämpfe immer als Voraussetzung einer späteren göttlichen Vollendung. Das Ramayana-Epos, der Kampf Ramas um die Wiedergewinnung der vom Dämonenkönig Ravana von Ceylon geraubten Frau Sita stimmt in seiner Thematik mit dem Raub Helenas überein, der zum Trojanischen Krieg führte. In beiden Fällen handelt es sich darum, dass ein Kriegerkönig sich der dämonischen Macht, der seine Frau verfiel, als überlegen erweise. Dies scheint überhaupt eine Grundthematik der Widderzeit zu sein. Doch im Ramayana ist das Geschehen religiös motiviert, während es im homerischen Epos zum rein menschlichen Geschehen wird, dem sich selbst die Götter einordnen.

Der Reichtum der indischen Mythen und philosophischen Schulen ist ungeheuer groß; die früher zitierten Grundbegriffe treten in immer neuer Kombination auf, wobei keiner ein absoluter Wert zugestanden wird. Ziel ist immer die Befreiung des Einzelnen, der nur auf seinem Weg gemäß seinem Karma zum Dharma finden kann. Und bei jedem mag sich eine andere Begrifflichkeit als förderlich erweisen. Doch gibt es auch eine Synthese, die von allen Indern als verpflichtend und vorbildlich angesehen wird: die Bhagavad Gita. Obwohl sie nicht ursprünglich zu den heiligen Schriften gehört, hat sie wohl seit etwa dem vierten Jahrhundert eine zentrale Rolle eingenommen. Ihre Systematik ist dem kosmischen Denken entnommen; sie wird aber nicht mehr auf das Weltenjahr bezogen das geschichtliche Denken hatte bei den Indern keine Bedeutung sondern gebraucht die Symbolik des Tierkreises als Wegweiser zur individuellen Erlösung.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
2. Das mythische Denken
© 1998- Schule des Rades
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