Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

2. Das mythische Denken

Mythisches Denken der Israelis

Die Geschichte Israels wiederholt in großen Zügen die drei Stadien, die wir schon bei China als charakteristisch für die Widderzeit erlebten. Am Anfang, genau zu Beginn der Widderzeit um 2300 v. Chr. steht der Begründer des Volkes, Abraham aus dem Lande Ur am persischen Golf, der sich aufmachte, in das ihm von Gott versprochene Land nach Westen zu ziehen. Gott verlangte von Abram das Opfer seines Sohnes Isaak; doch als er im Begriff steht, ihn zu opfern, erscheint an seiner Stelle ein Widder, der dargeboten wird. Sein Sohn Isaak zeugt Zwillinge, Esau und Jakob. Der jüngere zeugt als Israel zwölf Kinder, die die Charakteristiken der Tierkreiszeichen als Stammesmerkmale, als Familientypus verkörpern. Einer von ihnen, Josef im Symbol des Wassermanns, wird von den Brüdern nach Ägypten, dem Hort der Weisheit verkauft. Er zeigt sich dort ihrer Kunst, der Traumdeutung, fähig. So gelangt er zu hohen Ehren und wird mit seinen Nachfolgern in die Mysterien des Stierkultes eingeweiht.

Einige Jahrhunderte später sind die Nachkommen Israels versklavt. Gott offenbart sich nun dem Moses im Feuer als der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Er erhält den Auftrag, das Volk Israel aus der ägyptischen Knechtschaft zu befreien. Der Pharao will seine Knechte nicht ziehen lassen. Doch Moses erweist sich in allen magischen Fähigkeiten den ägyptischen Priestern überlegen. Gott sendet Plagen über die Ägypter, von denen die Israeliten jedesmal verschont bleiben. Schließlich gibt der Pharao dem Volk die Erlaubnis, nach dem gelobten Land zu ziehen. Dies geschah wahrscheinlich im 13. Jahrhundert, also gleichzeitig mit König Wen und dem Herzog von Dschou. Den Pharao reut sein Entschluss, er will die ausziehenden Israeliten wieder einholen. Da teilt sich das Meer, lässt Moses und sein Volk das nach der Überlieferung an 300.000 Mann stark war hindurch und schlägt über den nachrückenden Ägyptern zusammen, so dass sie alle ertrinken.

Am Berg Sinai werden Moses die neuen Gesetze Gottes, die zehn Gebote zuteil. Er selbst spricht nicht mit dem Volk, sondern lässt seine Offenbarung durch seinen Bruder, den Hohepriester Aaron, übermitteln. Das Volk zeigt sich aber noch nicht fähig, den Verboten und Geboten Gottes zu folgen. So muss eine Generation in der Wüste verharren; und erst die neugeborene Generation — die nicht mehr die ägyptische Zeit erlebt hatte, denn immer wieder fällt das Volk in den Kult des goldenen Kalbes, also der Stierzeit, zurück, — führt Moses in das gelobte Land, in dessen Angesicht er stirbt.

In seiner Nachfolge führten Propheten das Volk. Das höchste Amt hat der Richter, der dafür sorgt, dass die Gebote in ihrer Reinheit befolgt werden. Das eroberte Land wird nach den zwölf Stämmen gegliedert, die früheren Bewohner ausgerottet oder vertrieben. Alle fremden Kulte sind zu vernichten. Der Prophet Eliah schlachtet eigenhändig die Baalspriester, die den Kult der benachbarten Kanaaniter übernommen hatten. Die Weisungen Gottes werden immer neu von den Propheten verkündet und vom Volke befolgt, auch wenn auf Gottes Geheiß ein ganzer Stamm wie Benjamin wegen Ungehorsam getötet werden muss. Er wird dann wieder aus den Männern der anderen Stämme und der übrig gebliebenen Frauen erneuert.

Im 10. Jahrhundert verlangen die Israeliten die Einsetzung eines Königs, um es ihren Nachbarn gleichzutun. Widerstrebend gewährt der letzte Prophet Samuel ihren Wunsch und salbt den Saul zum König. Unter den beiden folgenden Königen David der Saul wegen dessen Ungehorsam ablöste und Salomon wird der prachtvolle Tempel in Jerusalem, der Stadt Gottes, erbaut.

In der Folge teilt sich das Reich in Juda und Israel. Die Israeliten fallen immer wieder von Gott ab und werden als Strafe von anderen Völkern besiegt, schließlich endgültig von den Babyloniern. Hier nun in der babylonischen Gefangenschaft kommt es zum dritten Stadium der Propheten: Jesajas, Jeremias, Hesekiel und Daniel, im Symbol von Stier, Skorpion, Wassermann und Löwe, offenbaren den Sinn der Geschichte; sie offenbaren zusammen mit den zwölf kleineren Propheten die künftigen Geschehnisse, vor allem das Auftauchen des Menschensohnes und des Messias, mit dem die jüdische und die Weltgeschichte dereinst ihr Ende finden wird.

Unter Esra lässt der babylonische König die Juden, die als einziger Stamm mit den Leviten übriggeblieben sind, nach Israel zurückkehren. Als Hohepriester reinigt dieser um 440 v. Chr. den Kult und führt die alte Gesetzesfrömmigkeit wieder ein. Wer ein fremdstämmiges Weib geheiratet hatte, musste sich von ihr scheiden lassen. Die Makkabäer suchen ein letztes Mal die politische Selbständigkeit zu wahren. Es gelingt ihnen nur kurz; mit der Herrschaft der Römer ist die politische Rolle der Juden endgültig vorüber. Unter Augustus erfüllt sich die erste Weissagung, die Geburt des Menschensohnes, der als Christus über seinen Opfertod dem einzelnen Menschen den Weg zur Unsterblichkeit eröffnet. Doch die zweite Aufgabe des jüdischen Volkes bleibt davon unberührt: zu wirken, bis auch der letzte Dämon, die letzte falsche Identifikation, die den Weg zu Gott verstellt, vernichtet ist und die Welt tatsächlich zum Reich Gottes wird. Die Juden werden über die ganze Welt verstreut und schließen sich in der neuen Frömmigkeit des Talmud in einer legistisch ritualisierten Lebensform ab, die sie bis zum Ende der Fischezeit in der Gegenwart beibehalten haben.

Der Gott Israels ist am Anfang eindeutig der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs; er offenbart sich im brennenden Dornbusch dem Moses aber als der ewig Zukünftige: sein Name lautet Ich werde dasein als der ich dasein werde. Er bedeutet tatsächlich einen neuen Gottesnamen: die Vereinigung mit Gottes Wollen vollzieht sich im totalen Gehorsam.

Von diesem Leitbild her wird das frühere Weltenjahr von den Israeliten neu interpretiert: Adam und Eva müssen das Paradies verlassen, weil sie Gott ungehorsam geworden sind. Noah versucht, anders als Utnapischtim, der sein Wissen verbirgt, seine Zeitgenossen zur Umkehr aus ihrer Triebverfallenheit zu bewegen; erst als dies nicht gelingt, baut er seine Arche, mit der er die Sintflut übersteht, und Gott macht mit ihm einen neuen Bund im Zeichen des Regenbogens. Abraham ist Gott bedingungslos gehorsam, selbst als die Opferung seines einzigen Sohnes, der ihm im hohen Alter geboren wurde, verlangt wird. Er fleht Gott an, die Stadt Sodom zu retten, wenn auch nur ein einziger Gerechter sich in ihr fände; doch Gott vernichtet sie, weil keiner mehr dort gerecht im Sinne eines Lebens nach Gottes Gebot ist. Diese Vernichtung geht den Menschen nichts an; er darf nicht an ihr teilnehmen, sondern muss sie Gott überlassen: Lots Frau, die sich auf der Flucht aus Neugier umdreht, erstarrt zur Salzsäule.

Der Gehorsam gegenüber Gott als dem lebendigen Wort, das sich im Feuer offenbart, fügt sich der Weltgeschichte ein: Abraham wird ausdrücklich von Melchisedek als dem Vertreter der Urreligion anerkannt und gibt ihm seinerseits den Zehnten; und von Christus, dem Menschensohn, wird es wiederum heißen, er sei ein Priester nach Art des Melchisedek; seine Rolle geht über die national jüdische hinaus.

Das Wort Gottes ist von der Sprache der Menschen verschieden; es schafft unmittelbar Leben. So heißt es am Beginn der Genesis: Gott sprach: es werde Licht und es ward Licht. Die Worte Gottes im Unterschied zu den Worten der Menschen führen auf den rechten Weg; daher der Begriff einer heiligen Schrift, in der schon die Buchstaben eine verlebendigende Bedeutung habe. Wahrscheinlich sind die Buchstaben von den Juden erschaffen worden, wenn auch die Geschichtswissenschaft diese Erfindung gewöhnlich den Phöniziern zuschreibt. Abram, als der Gott nachfolgt, wird zu Abraham.

Jeder Name bedeutet laut seiner Buchstabenordnung eine ganz bestimmte Geistigkeit, einen ganz besonderen Weg. Wer die Namen der Schöpfung kennt, der wird ihr Herr. Als solcher war Adam immer gedacht; Gott führte, laut biblischem Mythos, ihm alle Geschöpfe vor, damit er sie nenne. So hat auch jeder Bibeltext nicht nur eine geschichtliche Bedeutung, sondern noch eine tiefere, die kabbalistische; und es ist das Wissen um diese verlebendigende Macht des Wortes, das die jüdische Religion selbst über die zwei Jahrtausende ihrer Unterdrückung lebendig gehalten hat.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
2. Das mythische Denken
© 1998- Schule des Rades
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