Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

Einführung

Begreifen - Urteilen - Verstehen

Begreifen bedeutet das Erfassen mit vorgegebenen Begriffsmitteln, z. B. mittels der mathematischen Kategorien; was immer einen mathematischen Aspekt hat, lässt sich nach Zahl und Maß bestimmen; das Kriterium des Begreifens ist die Anwendung eines Begriffes auf eine Anzahl von Unterbegriffen: so lassen sich die Tiere, Menschen und Pflanzen dem Begriff der Lebewesen einordnen. Ergebnis des Begreifens ist also eine Einzelheit, ein Wort, dessen Gültigkeit und Reichweite im Begriff festgelegt ist.

Das Verstehen hingegen bezieht sich nicht auf ein einzelnes Wort, sondern auf den Zusammenhang von Begriffen im Satz, wenn nötig unter Bildung neuer Begriffe. Und während das begriffliche Wissen gleich einem Katalog oder Lexikon aus Einzelheiten besteht, die sich aus einer oder mehreren Voraussetzungen ableiten lassen, gründet das verstandene Wissen auf dem systematischen Zusammenhang der Voraussetzungen selbst. Das Kriterium des Begreifens ist somit die klare Definition, und das Kriterium des Verstehens die Veranschaulichung im System.

Die drei Geschichtsauffassungen unterscheiden sich durch ihre Kriterien: die positivistische findet diese in Erfahrung und Experiment, die sie begrifflich durchbildet; die metaphysische in der Offenbarung oder dem Weltbild, dem geglaubten System der Voraussetzungen, das als Verstehensrahmen außerhalb der Kritik bleibt; die philosophische dagegen in der Art und Weise, wie Verstehen und Begreifen zu vereinen sind: dies geschieht im Urteilen.

begreifen
Bedeutung
Wirklichkeit
positivistisch
urteilen
wahr – falsch
Sein
philosophisch
verstehen
Sinn
Möglichkeit
metaphysisch

Ursprung der philosophischen Geschichtsauffassung ist die Urteilskraft, welche den Zusammenhang der metaphysischen Voraussetzungen und der beobachteten festgestellten Tatsachen prüft und nach wahr und falsch, möglich und wirklich unterscheidet. Doch diese Urteilskraft hat selbst wieder einen Ursprung: sie wurzelt im Rahmen der geistigen Struktur des Menschen selbst, in seinem Bewusstsein. So ist aber bereits Maß und Umfang einer philosophischen Geschichte beschränkt: sie muss sich auf dasjenige begriffliche Wissen begrenzen, das von der Menschheit tatsächlich verstanden wurde, also auf den Fortschritt in der Erkenntnis der Wahrheit.

Es gibt diesen Fortschritt; nicht nur der einzelne Mensch nimmt im Laufe seines Lebens an verstandenem Wissen, an Weisheit zu, auch die Menschheit als Ganzes, als Gattung verfügt über einen geistigen Wissensschatz, der heute größer ist als vor 2.000 oder 10.000 Jahren. Dieses verstandene Wissen, die Weisheit, wird zum Teil des menschlichen Wesens und prägt sowohl die Weltauffassung des Einzelnen als auch sein Handeln; daher wollen wir die philosophische Auffassung der Geistesgeschichte als Geschichte der Denkstile bestimmen. Von Buffon, dem französischen Philosophen des 18. Jahrhunderts, stammt der Satz: Le style c’est l’homme — der Mensch ist sein Stil. Dieser Stil lässt sich nicht als eine einzelne Charakteristik bestimmen, sondern offenbart sich im Zusammenhang vieler Elemente; er entspricht dem Stilbegriff in der Kunstgeschichte. Wie die Gotik oder der Barock sich aus dem Zusammenklang einer gewissen Anzahl von Stilkomponenten verstehen lässt, zeigt auch das Denken einer bestimmten Epoche einen inneren Zusammenhang von Problemstellungen und Kategorien, das seinen Stil ausmacht.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
Einführung
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