Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

2. Das mythische Denken

Die zehn Gebote

In der zweiten Periode wurde auch das öffentliche Leben ohne allen Geheimnisses durch die Gesetze des Moses auf Gott abgestimmt. Diese, vor allem die zehn Gebote, sind die wesentliche Schöpfung des jüdischen Geistes.

Um den Zusammenhang zwischen Geschlecht, Lebenskraft und Gott zu verdeutlichen, wurde die von Abraham eingeführte Beschneidung beibehalten. Mit den zehn Geboten rückte die magische Verknüpfung von Buchstabe, Zahl und Bedeutung in den Hintergrund. Nicht nur über die Versenkung in das Wort als Schöpfungsprinzip, sondern auch in der Befolgung der zehn Gebote, die eine andere Bedeutung der Zahlen bringen, ist die Vereinigung mit Gottes Wille zu erreichen.

Heute kennen wir die zehn Gebote gleichsam als Moralprinzipien, als Grundlage des harmonischen Zusammenlebens, also als Leitfaden der Ethik. Dies ist nicht ihre ursprüngliche Bedeutung: zwischen Mensch und Gott stellen sich dämonische Kräfte aus seiner Traum- Triebsphäre, die seinen Willen an bewusstseinsfremde Faktoren verhaften. Die zehn Gebote jochen die Triebe oder dämonischen Kräfte an. Sie ordnen sie dem Wollen Gottes unter, auf dass der Mensch in Freiheit und Gotteskindschaft lebe. Sie sind also nicht ethischer, sondern metaphysischer Natur.

In ihrer metaphysischen Ordnung als Tor zum unerschöpflichen Gott verstanden gliedern sie sich ein wenig anders als in der christlichen Deutung; sie werden durch die Zahlenprinzipien von null bis neun geordnet, welche Ordnung, wie erinnerlich, zum erstenmal in ihrer Bedeutung vom ägyptischen Hermes Trismegistos gestaltet wurde. Er verstand sie als Denkprinzipien, Moses dagegen führte sie als Willensprinzipien ein; ihre Befolgung macht es dem Menschen möglich, den Kontakt mit seinem Ursprung offen zu halten. Die zehn Gebote sind also nicht Gesetze im Sinn eines Königs, deren Übertretung bestraft wird, sondern, wie Martin Buber betont hat, Weisungen für den Menschen, wie er seinen Willen mit dem Wollen des Schöpfergottes in Einklang halten kann; und die spätere Bibel zeigt dann, wie es möglich ist, selbst beim Bruch dieser Weisungen den Weg in die Heilsgemeinschaft zurückzufinden und deckt vor allem bei den Propheten schließlich die schwersten Verfehlungen auf, aus denen kein Weg mehr zurückführt. Gott steht dem Menschen in seinem Bemühen, auf den Weg zurückzukommen, immer als Antwortender und Liebender gegenüber. So kann dieser durch das Gebet und durch Vertiefung in das Wort, die heilige Schrift, jedesmal erkennen, ob es eine Rückkehr aus der Verhaftung für ihn gibt und wie er diese vollziehen kann. Wir wollen die zehn Gebote nun in ihrer Reihe durchgehen und deuten.

  1. Gott sprach zu Moses und Israel vom Berg Sinai: Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus dem Diensthaus geführt habe. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben.

    Gott hat sich früher dem Moses mit folgendem Namen offenbart: Ich werde dasein als der ich dasein werde. Er solle im Auftrag dieses ewig Zukünftigen das Volk aus Ägypten führen. Nun gibt er sich wiederum als der zu erkennen, der Israel befreit hat und verlangt, dass keine Götter neben ihm errichtet werden, da sonst der Zugang zum Ursprung versperrt wird. Gott ist also nicht eine Vorstellung, sondern intensives Sein, eine lebendige geschichtliche Tatsache. An ihn allein, den Gott Abrahams, Gott Isaaks und Gott Jakobs, soll das Volk sich halten.

  2. Du sollst dir kein Bildnis und irgendein Gleichnis machen, weder des das oben im Himmel, noch des das unten auf Erden, noch des was im Wasser unter der Erde ist. Bete sie nicht an und diene ihnen nicht. Denn ich, der Herr, bin ein eifriger Gott, der da heimsucht der Väter Missetat an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied, die mich hassen; und tue Barmherzigkeit an vielen Tausenden, die mich lieb haben und meine Gebote halten.

    Die Einheit, die in sich geschlossene Vorstellung ist es, welche zwischen den Menschen und seinen Ursprung tritt; nicht nur direkt, sondern in allen drei Welten, der geistigen, der seelischen und der körperlichen. Wer immer eine Vorstellung in einem der drei Bereiche zur Substanz erhebt, der trennt sich damit von der göttlichen Liebe; und wer sich von dieser trennt, verfällt dadurch notwendig in ihr Gegenteil, den Hass. Dieser verfälscht nicht nur die Rückbeziehung des Menschen zu Gott, sondern wirkt sich auf seine Kinder auf Generationen hinaus aus. Nur dann kann man die Liebe bewahren, wenn man sie selbst weitergibt; wie es heißt: an die Tausende, die Gott lieb haben und seine Weisungen befolgen.

  3. Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen missbraucht.

    Missbrauch des Namens das heißt der schöpferischen Potenzen geschieht im kabbalistischen Weg, wenn der Mensch, anstatt den Willen Gottes zu ergründen, versucht, sich selbst zum Herrn der Schöpfung auf magische Weise zu erheben. Wer dies tut wie Luzifer, der Abendstern, der wird von der Kraft, die er rief, mitgerissen. Nicht missbrauchen heißt aber wohl gut gebrauchen. Im Sinne des Willens Gottes soll der Mensch sich der schöpferischen Kräfte bedienen, wie ja auch der Morgenstern als Präfiguration des Messias betrachtet wurde. Morgenstern und Abendstern sind zwei Erscheinungen der Venus; durch den wahren Gottesnamen wird ihre Verführung gebannt.

  4. Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligst. Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Dinge beschicken. Aber am siebten Tag ist der Sabbat des Herrn deines Gottes; da sollst du kein Werk tun noch dein Sohn noch deine Tochter noch dein Knecht noch deine Magd noch dein Vieh noch dein Fremdling der in deinen Toren ist. Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles, was darinnen ist, und ruhte am siebenten Tage. Darum segnete der Herr den Sabbattag und heiligte ihn.

    Wenn ein Mensch sich einmal in den Arbeitsprozess begibt, so hört dieser nie auf. Seine dialektische Natur die Vereinigung von Ziel, Bemühung und Mittel erzeugt nach jeder Erfüllung eine neue Aufgabe. Nur durch bewusste Einhaltung der Woche mit dem Sabbat als Ruhetag kann der Mensch der selbsterzeugten Sklaverei entgehen. Sieben ist das Bild der gerichteten Zeit; durch sie wird die dialektische überwunden. Dies übertrug sich in Israel auf das Schuldenrecht: keine Schuld durfte nach sieben Jahren mehr eingefordert werden.

  5. Du sollst Vater und Mutter ehren, auf das du lange lebest in dem Lande das dir der Herr dein Gott gibt.

    Die Vereinigung von geistigem Streben und praktischer Lebensgestaltung ist nur möglich, wenn beide Richtungen, die körperlich geschlechtliche Nachfolge und die geistige Läuterung, gewahrt bleiben. Alle anderen Religionen kannten das Heil nur im Mönchstum, im Aufgeben von Heim und Herd, welch letztere immer mit der vier symbolisiert wurden. Israel versuchte die Synthese von Geist und Familie zu verwirklichen. Sobald diese verloren ging, da ging auch das Land in der babylonischen Gefangenschaft verloren.

  6. Du sollst nicht töten.
  7. Du sollst nicht ehebrechen.
  8. Du sollst nicht stehlen.
  9. Du sollst kein falsches Zeugnis reden wider deinen Nächsten.

Diese vier Gebote hat Israel mit allen Religionen gemeinsam.

  1. Lass dich nicht gelüsten nach deines Nächsten Haus; lass dich nicht gelüsten deines Nächsten Weibes noch seines Knechtes noch seiner Magd noch seines Ochsen noch seines Esels noch alles, was dein Nächster hat.

    Das letzte Gebot betrifft nicht das Stehlen, das unter dem siebten Prinzip verboten wird, sondern das gedankliche Begehren. Schon die Vorstellung des Begehrens muss, wenn man ihr freien Lauf lässt, das Verhältnis zum Mitmenschen zerstören. Nicht nur im Gesetz, sondern auch im eigenen Geist gilt es daher aller Begehrlichkeit zu entsagen, und sich frei und offen auf das zu beschränken, was einem nach Leistung und Stellung zukommt.

Jedes der Gebote betrifft einen menschlichen Trieb und zeigt den Weg, wie dieser dem Prinzip der Null also dem Leben aus dem Ursprung des Schöpfers untergeordnet werden kann. In Babylon und auch in Ägypten waren diese Triebe als magische Kräfte, als göttliche Potenzen oder als Planetenkräfte personifiziert worden. Doch Moses lehnte alle magischen Praktiken ab. Da Gott der Schöpfer auch der Sterne ist, muss der Mensch, der seinen Weisungen folgt, sich auch allen Bedingungen der Schöpfung als überlegen erweisen.

Die zehn Gebote umfassen aber nur den Rahmen der Gemeinschaft. Wenn nun Gehorsam zum Generalnenner des menschlichen Verhaltens wird, so muss jede Lebensäußerung bis ins letzte Detail auf die Gebote abgestimmt sein. Solche Verhaltensvorschriften finden wir als Sittlichkeit in allen Kulturen der Widderzeit. Doch während sie bei den übrigen Völkern eine Mischung aus Offenbarung und Überlieferung bildeten, lassen sie sich in Israel mit Ausnahme der Speisevorschriften auf die zehn Gebote zurückführen. Die Erklärung dieser Zurückführung, die Interpretation der Heiligen Schrift bildete dann auch in der Spätzeit Israels, im 5. Jahrhundert v. Chr. unter Esra und in noch höherem Maße in deren Ritualisierung im Talmud-Judentum der Diaspora bis in die heutige Zeit die Grundlage des jüdischen Volksbewusstsein.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
2. Das mythische Denken
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