Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

2. Das mythische Denken

Heraklessage

Der erste Sagenkreis stammt aus Theben, der Stadt des Kadmos. Sein Mittelpunkt ist Herakles, den Zeus mit einer sterblichen Frau, der Alkmene, gezeugt hatte. Er galt körperlich als der stärkste und vollendetste aller Menschen. Schon als Kind, im Palast zu Theben, tötete er zwei Schlangen, die Hera, die Gattin des Zeus, aus Eifersucht in sein Schlafgemach gesandt hatte.

Die Heraklessage schließt mit vielen Einzelheiten an das Gilgamesch Epos an. Wahrscheinlich ist dieser Mythos bewusst von Herakles durchgespielt worden, da Kadmos aus Phönizien stammte und die babylonische Überlieferung in die griechische einbezog. Doch gibt es einen Unterschied: während Gilgamesch zwölf Heldentaten vollbrachte, um seinen tiermenschlichen Freund und Zwilling Enkidu unsterblich zu machen, führt Herakles seine zwölf Arbeiten im Zeitraum eines Jupiterkreislaufs aus, um einen Mord, den er begangen hatte, zu entsühnen; ein Zwillingsbruder wird zwar erwähnt, tritt aber im Epos nicht in Erscheinung.

Dieser Mord — die Tötung des Königs Pyraichmos, den er von zwei Fohlen in Stücke reißen ließ — versetzte ihn in Wahnsinn. Hier erkennen wir die Gefahr des griechischen Weges, die sich religiös im orgiastischen Kult des Dionysos äußerte: wer sich dem Schöpferischen, dem Eros, anvertraut und von der natürlichen zur geistigen Unsterblichkeit aufsteigen will, hat immer mit der Bedrohung zu rechnen, dass die Bilder des Unbewussten sein Bewusstsein überfluten und wegschwemmen, wenn er Handlungen begeht, die er nicht verantworten kann. So wandte sich Herakles nach dem Mord an das Orakel von Delphi. Dieses gab ihm als Antwort, dass er zwölf Jahre dem König Eurystheus von Tiryns zu dienen habe und die Arbeiten vollbringen möge, die dieser ihm auftrage.

Tiryns war wie erinnerlich eine minoisch-kretische Siedlung; ihre Burg ist im gleichen Stil erbaut wie das Labyrinth des Minos in Knossos. Im kretischen Kult wurde als Herr der Geschlechtlichkeit die Schlange verehrt, mythisch ein Bild des Tierkreises. Durch bewusste Bemächtigung seiner Stadien über die zwölf Arbeiten lässt sich die Verantwortung wiedergewinnen und die Triebhaftigkeit in die psychische Unterwelt, den Tartaros verbannen, wie dies schon der pelasgische Mythos sagt. Diesen Kampf führt Herakles mit Hilfe der Olympier, die ihm mit Ausnahme der Stiergöttin Hera, welche bis zuletzt feindlich gesonnen blieb, halfen: Hermes, der Götterbote, gab ihm sein Schwert; Apollo, der Sonnengott, die Pfeile; Hephaistos, der göttliche Schmied, den Brustpanzer, und Zeus, der Himmelsherr, einen Schild mit zwölf Schlangenköpfen; wohl zum Zeichen, dass über die zwölffache Gliederung der Aufgaben, die auch der olympischen Ordnung zugrunde liegt, die Urschlange des Wahnsinns zu besiegen ist. Herakles vollbrachte nun die zwölf Arbeiten: die Besiegung des nemeischen Löwen, der lernäischen Hydra, der ermantyschen Keiler; die Reinigung der Ställe des Augias, die Überwindung der stymphalischen Vögel, das Einfangen der Mähren des Diomedes; die Eroberung des Gürtels der Hyppolite, des Viehs von Gerion, und die Äpfel der Hesperiden usw.; und schließlich als 12. Arbeit die Gefangennahme des Höllenhundes Kerberos, mit welcher der Weg zur Unsterblichkeit freigekämpft war.

Doch die Schlange, die lernäische Hydra der zweiten Arbeit mit ihren neun Köpfen, wieder ein Symbol des Stierzeichens, sollte zur Ursache seines Todes werden. Ihr Blut wurde in einem Topf aufgefangen, den Nessos der Frau Deianeira des Herakles gab mit dem Bemerken, der Topf enthalte einen Liebeszauber, der den Mann auf ewig treu mache. Eifersüchtig auf die immer neuen Liebschaften des Herakles tauchte Deianeira ein Hemd in das Blut und sandte es ihm. Er zog es an, und es verbrannte ihm das Fleisch bis auf die Knochen. So ließ er sich lebendig verbrennen — ein Beispiel des astralen jupiterischen Königs, der noch im vorigen Jahrhundert in Afrika und Indien nach zwölfjähriger Herrschaft getötet wurde — und wurde unter die unsterblichen Götter aufgenommen.

Zum Sagenkreis von Theben gehört auch der Komplex um König Ödipus, der seinen Vater tötete und seine Mutter heiratete; ferner die Sage von Kreon und Antigone, die den Stoff zu den Dramen des Sophokles bildete. Der nächste Sagenkreis hat seinen Schwerpunkt in der Landschaft Argolis mit Mykene und Tiryns. Dort spielen die wesentlichen Epen Griechenlands, die Argonautensage vom Goldenen Vlies und der Trojanische Krieg.

Beide Sagen kreisen um ein gemeinsames Thema: das Verhältnis vom Mann zur Frau. Jason zieht aus, um sein rechtmäßiges Königtum zu erringen, das ihm von einem Usurpator vorenthalten wird. Dieser will es ihm zurückerstatten, wenn er das Goldene Vlies, ein Widderfell, aus dem Heiligtum des Kriegsgottes Ares am schwarzen Meer in Kolchis nach dem Peloponnes zurückholt, um einer Seele die Heimkehr nach Griechenland zu ermöglichen. Bei dieser Tat hilft ihm die Tochter des Königs von Kolchis, die Zauberin Medea. Durch Intervention des Gottes Eros verliebt sie sich in Jason und unterstützt ihn beim Raub des Vlieses. Schließlich heiratet sie ihn auf der Heimfahrt, und er schwört, er werde sie nie verlassen. Doch nach der Rückkehr verstößt er sie; darauf wird er ausgestoßen und wandert als heimatloser Bettler fortan bis zu seinem Tod durch Griechenland. Sie hingegen wird in die elysischen Felder aufgenommen und einem unsterblichen Helden vermählt.

Diese Sage bedeutet die Würdigung und Anerkennung des weiblichen Weges und seiner Zaubermacht, dank deren allein sich der natürliche Mensch der Widderzeit den Zugang zum Himmel erobert, zeigt aber auch sein Scheitern, wenn er der Frau nicht gewachsen ist oder ihr untreu wird. Auch die zweite Sage kreist um eine Frau: Helena, die schönste Griechin und Gattin des Menelaos, Bruder des Königs Agamemnon von Mykene, wird über Anstiftung der Liebesgöttin Aphrodite — welcher der trojanische Prinz Paris den Apfel als Anerkennung des größten Liebreizes gegenüber Athene und Hera überreichte — von Paris geraubt und nach Troja entführt. Unter Führung des Agamemnon brechen die griechischen Stämme gegen Troja auf besiegen es nach zehnjährigem Kampf, nach welchem Ende Helena, ohne dass ihr ein Leid zugeführt wird, zu Menelaos zurückkehrt, und schließlich auch als Unsterbliche in die elysischen Felder aufgenommen wird. Troja wird verwüstet, doch die Frau trifft keine Strafe. Hier haben wir einen ähnlichen Mythos wie bei Rama und Sita im indischen Epos Ramayana; mit dem Unterschied, dass der Ehemann Menelaos als Held gar nicht in Erscheinung tritt. Er ist eher ein Bild des Durchschnittsmenschen, hat auch anfangs gar keine Lust, nach Troja zu ziehen, um seine Frau wieder zu erobern. Sein Bruder Agamemnon, Achilles und vor allem der listige Odysseus, der dank der Erfindung des hölzernen Pferdes Troja erobert, sind die eigentlichen Helden der homerischen Epen, der Ilias und der Odyssee. In diesen dreien werden Urtypen menschlichen Verhaltens gezeichnet:

  • Achill, der reine Held, erreicht die Vollendung im Kampf.
  • Odysseus, der den Zorn des Poseidon als Herrn des Unbewussten durch seine Schlauheit und Listen auf sich zog, kommt erst nach langen Irrfahrten unter Verlust aller seiner Gefährten wieder heim. Er besiegt zwar die Freier seiner Frau Penelope im Kampf, doch muss er zur Versöhnung Poseidons noch einmal in die Fremde aufbrechen. Sein Schicksal zeigt die Unendlichkeit des Weges jenes Menschen, der sich dem eigenen Verstand und Einfallsreichtum als Führer anvertraut.
  • Agamemnon schließlich, das Urbild des Patriarchen, erleidet ein tragisches Schicksal: bei der Rückkehr nach Mykene wird er von seiner Frau Klytemnestra und ihrem Liebhaber Ägisthos ermordet; seine Tochter Elektra wird an einen einfachen Bauern verheiratet, und sein Sohn Orestes flieht mit seinem Lehrer in die Ferne.

Orest kehrt als Erwachsener zurück, und mit Hilfe seiner Schwester Elektra tötet er auf Geheiß des delphischen Orakels seine Mutter Klytemnestra und ihren Liebhaber Ägisthos. Hierdurch ruft er den schwersten Fluch der Erinyen herauf, die ihn verfolgen und immer wieder, wie früher den Herakles, mit Wahnsinn schlagen. Doch die Göttin Athene die selbst nicht auf gewöhnliche Weise durch eine Mutter, sondern aus dem Kopf des Vaters Zeus geboren wurde verteidigt die Tat des Orestes auf dem Areopag, der Volksversammlung in Athen: nur der Vatermord sei unsühnbar, der Muttermord nicht; denn die Frau sei nichts als die träge Ackerfurche, in die der Mann seinen Samen versenkt. So wird Orest freigesprochen, und einige der Erínyen welche wie erinnerlich seinerzeit aus den Blutstropfen bei der Entmannung des Uranos entsprossen siedeln sich als freundliche Nymphen, als Eumeniden, in einer Grotte unter der Akropolis von Athen an.

Mit dem Prozess wurde das Patriarchat endgültig gegenüber dem Matriarchat gefestigt. Fortan galt nur die männliche Erbfolge, da sie allein geistige Kontinuität zu schaffen vermag.

Die mykenische Kultur hatte ihren Höhepunkt in Agamemnon. Sein Grabmal verwirklicht noch einmal die kosmische Symbolik: in einem radartigen Bauwerk wurden er und seine Gefährtin beigesetzt, und vor dem Tor der Burg befinden sich neun seltsame bienenkorbartige Bauwerke, die heute als Gräber bezeichnet werden, doch wahrscheinlich kultische Meditationsorte waren.

Alle griechischen Mythen betreffen den Weg des natürlichen Menschen der Widderzeit. Die Heraklessage zeigt die Befreiung aus dem selbstverschuldeten Wahnsinn durch Aufsichnahme der zwölf Arbeiten, durch den freiwillig angenommenen Dienst in der Tierkreisordnung. Die Argonautensage schildert den Wiedergewinn der Seele, der erblichen Kontinuität durch Anerkennung der Zauberin und Bejahung der Liebesbande. Der Trojanische Krieg schildert Verlust und Wiedergewinnung der Schönheit über den Kampf um Helena, den listenreichen Weg des geistig selbständigen Odysseus zur Besänftigung der Götter, den reinen Helden in Achilles, der dem germanischen Siegfried verwandt ist, und in Agamemnon und dem Atridengeschick mit Orest und Elektra die Überwindung des seelisch bestimmten Matriarchats durch die Versammlung der freien Männer des Areopag zu Athen: der wache geistige Entschluss zeigt sich der traumhaften Verstrickung des Wahnsinns überlegen. Diese Thematik bringt uns zum letzten der Sagenkreise, der die endgültige Befreiung der Vernunft und des Wachbewusstseins aus der kosmisch astralen Überlieferung Kretas zum Gegenstand hat.

Der König von Kreta, Minos, wie erinnerlich Sohn der Europa, beherbergte in seinem Palast zu Knossos, dem Labyrinth, den Minotauros; ein Ungeheuer mit Stierkopf und Menschenleib, das aus der Paarung der Pasiphae mit einem Stier entstanden war; also ein Sinnbild des Stierkultes, der weiter im Unbewussten das kretische Leben beherrschte. Dieser Kult verlangte nun alle neun Jahre von Athen das Opfer von sieben Jünglingen und sieben Mädchen, die dem Minotauros im Labyrinth dargebracht wurden.

Theseus, der König von Athen, nimmt es auf sich, seine Stadt von diesem Opfer zu befreien. Er geht freiwillig ins Labyrinth und gewinnt wieder, wie bei der Argonautensage Jason, die Unterstützung einer Frau: Ariadne gibt ihm einen Faden, den er aufrollt, bis er zum Minotauros kommt und ihn tötet, und mit dessen Hilfe er wieder zum Tageslicht zurückfindet. Dieser Faden der Ariadne bedeutet die methodische Schlussfolgerung, die denkerische Durchdringung von einem gesicherten Ausgangspunkt her; hiermit wird die Traumbewusstheit endgültig von der Bewusstheit besiegt.

Nach Überwindung des Minotauros kehrt Theseus nach Athen zurück. Ariadne lässt er aber gegen seinen ausdrücklichen Treueschwur, genau wie Jason die Medea, zurück. Ariadne heiratet den Dionysos, den Beherrscher der Traumwelt, und wird in die Unsterblichkeit aufgenommen; wohl zum Zeichen, dass der Weg der Vernunft nur mit Anerkennung auch der positiven Rolle des Traumes, deren Hüterin die Frau ist, zur endgültigen Erlösung führt. Theseus bringt sein Verrat ins Unglück. Er vergisst bei der erfolgreichen Rückkehr, wie versprochen, weiße Segel zu hissen, und kehrt mit schwarzen zurück. Sein Vater Aigeus glaubt dementsprechend, er wäre dem Minotauros zum Opfer gefallen und stürzt sich von der Akropolis in die Tiefe. Eine gewisse Zeit herrscht Theseus weiter in Athen und wird zum Begründer der Demokratie; doch dann wird auch er verbannt und endet heimatlos wie Jason.

Um diese drei Grundsagen scharen sich tausende von anderen, die alle Wege von der Traumsphäre und dem Wahnsinn zur wachen Vernunft nachzeichnen. Zur homerischen Zeit wurden sie in eine gemeinsame Dichtung aufgenommen, deren Gestalt fortan den Hintergrund des griechischen Denkens bildete. Doch das Weltbild selbst fand im achten Jahrhundert seine lebendige Verkörperung in vier Heiligtümern oder Zentren, die in Übereinstimmung mit dem Wesenskreis angelegt worden sind; Delphi, Olympia, Eleusis und Athen.

  • Athen verkörperte die Sphäre der wachen Entscheidung.
  • Eleusis bewahrte die Mysterien, die über die Traumwelt zugänglich sind.
  • Delphi war der Hort des Orakels,
  • und Olympia schließlich der Kristallisationspunkt der griechischen Gemeinschaft.

Sie bildeten die Eckpfeiler, innerhalb derer sich das griechische Staats- und Kulturbewusstsein bis zur Zeit Alexander des Großen entwickelte.

Delphi
Mythos
Athen
Wachen
K r e u z
Träumen
Eleusis
Olympia
Leben
Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
2. Das mythische Denken
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