Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

3. Das logische Denken

Anaxagoras - Leukipp - Demokrit

Bei Empedokles waren religiöses und logisches Denken in engem Zusammenhang; gleich Pythagoras lehrte er eine Synthese griechischer und asiatischer Philosophie. Die letzten Vorsokratiker waren rein logische Philosophen: Anaxagoras von Klazomenai, 499-428, und Leukippos mit Demokritos von Abdera, deren Lehre zu einer Einheit verschmolz, wobei die Lebenszeit des ersteren unbekannt ist, und beim zweiten der Höhepunkt seiner Lehrtätigkeit auf 438 angesetzt wird, Geburts- und Todesjahr aber fehlen.

Mit Heraklit und Parmenides hatte sich das europäische Denken in einen metaphysischen Grundgegensatz gespalten, der durch die Jahrhunderte in mannigfacher Form weiterwirken sollte: der Gegensatz zwischen Werden und Sein, Bewegung und Ruhe, Materie und Geist. Die meisten künftigen Denker bemühten sich fortan um seine Überwindung. Anaxagoras war von der naturphilosophischen Tradition des milesischen Denkens geprägt. Ohne Anleihe beim asiatischen oder mythischen Denken zu nehmen, versuchte er diese Probleme durch einen streng durchgeführten Dualismus von Geist oder Vernunft, nous und Materie zu lösen. Die Erscheinungswelt sei durch eine unendliche Anzahl von Urstoffen geprägt, die — hier folgte Anaxagoras dem Empedokles — sich in bestimmten Verhältnissen der Mischung befänden. Die Urstoffe seien, gemäß der eleatischen Lehre, unendlich teilbar; doch feiner als selbst der kleinste Teil sei der Geist selbst, der auf zwei Arten die Materie forme:

  • einerseits über die Bewegung in der Natur,
  • und andrerseits über die Erkenntnis beim Menschen.

Ein Mensch gelangt dann zur Weisheit, wenn er sein Wesenszentrum im Geist, in der Vernunft gefunden hat. Als dieses kleinste geistige wird also nicht ein substantielles Element verstanden, sondern die Vernunft als Vermögen des Teilens und Erkennens.

Anaxagoras lehrte in Athen bis in die klassische Zeit und war ein Freund des Perikles, des größten athenischen Staatsmannes. Wie später Sokrates kam er in Konflikt mit den Behörden, und unter der Anklage der Gotteslästerung — er behauptete, dass die Sonne aus glühenden Steinen bestünde und nicht göttlich sei — musste er schließlich Athen verlassen und starb im Alter hoch geehrt in Lampsakos am Hellespont. Rein dem Denken zugewandt, wurde er das Vorbild des rationalen nüchternen Naturforschers und Theoretikers.

Der Vorletzte der vorsokratischen Philosophen, Leukippos, kam zu ganz anderen Schlüssen. Auch ihm ging es darum, Werden und Sein, Denken und Materie zu vereinen. Aus Milet stammend, zog er nach Elea und wurde ein Schüler des Zenon. Später im gereiften Alter übersiedelte er nach Abdera in Thrakien und gründete eine eigene Philosophenschule, deren berühmtester Schüler Demokritos war.

Die Schriften dieser Schule sind in solchem Maße eine Einheit geworden, dass niemand mehr bestimmen kann, welche Gedanken von Leukipp und welche von Demokrit stammen. Beide stießen zu einer genialen Konzeption vor, die das physikalische Denken mehr als alle anderen Theorien befruchtete und in unserer Zeit auch ihre experimentelle Bestätigung fand: die Atomtheorie.

Atomos heißt unteilbar: Leukipp erkannte, dass die Mannigfaltigkeit der Erscheinungswelt sich auf die Kombination einfacher Urbestandteile zurückführen lassen muss, deren verschiedene quantitative Anordnung für die qualitative Beschaffenheit verantwortlich sei. Die Verbindungen erfolgen auf Grund dreier Prinzipien: der Gestalt, der Lage und der Reihung. Die beiden Grenzbegriffe, innerhalb derer sich die Atome verbinden, seien die Fülle und die Leere, im Unterschied zum Dualismus Geist-Körper des Anaxagoras. Nur wo Leere ist, lässt sich ein Ort mit Stoff ausfüllen. Zwischen den Orten, welche die Qualitäten einnehmen, gibt es Zwischenräume, dank derer wir sie voneinander unterscheiden können.

Der Grundgedanke der Atomtheorie stammt nicht aus der naturwissenschaftlichen Erfahrung, wenn auch Demokrit ein großer Naturforscher war, sondern aus dem Nachdenken über die Sprache: wie die gleichen Buchstaben die verschiedensten Worte bilden können, und die Worte sich in neuem Zusammenhang zu Sätzen, ja zu Komödien und Tragödien vereinen können, genau so müssen sich die Mannigfaltigkeit der Natur auf eine begrenzte Anzahl von Atomen, von geometrischen Urkörpern zurückführen lassen. Diese Idee war bereits von Pythagoras angeregt worden; doch Demokrit vollendete sie ohne Rücksicht auf die Prinzipien der Zahlenwelt. Atome seien nicht ruhende Körper, sondern in ewiger Bewegung, die sich unendlich weiter fortpflanzt und nie zu einem Ende kommen muss. Aus dieser Bewegung lässt sich alles Geschehen streng kausal begreifen; es sei überflüssig, außer der kausalen Determination noch eine andere Erklärung zu Hilfe zu nehmen.

Mit Leukipp und Demokrit war die schöpferische Denkkraft der Vorsokratiker abgeschlossen. Alle möglichen Ansätze wurden von ihnen zwischen dem 7. und 5. Jahrhundert durchgespielt. Die zwölf Philosophen lassen sich in drei Gruppen zusammenfassen.

  • Die ersten vier, Thales, Anaximander, Anaximenes und Pythagoras kennzeichnet die Suche nach der Arché, dem Prinzip.
    • Thales fand im Wasser eine genetische Arché,
    • Anaximander im Unendlichen eine logische,
    • Anaximenes versuchte logische und genetische Erklärung in der Arché der Luft materiell zu vereinen und führte den Begriff der Quantität als Ordnungsfaktor ein,
    • und Pythagoras nahm die Grundlage dieser Quantität, die Zahlen sowohl als genetische als auch als logische Prinzipien und vollendete sie im System des Chi.
  • Die zweite Gruppe, Xenophanes, Herakleitos, Parmenides und Zenon, suchte nach der Ordnung der Natur und fanden diese in der systematischen Durchbildung ihrer Vorstellungen, welche sie in bewussten Gegensatz zur Mythologie brachte.
    • Xenophanes hob das ruhende Gesetz gegen die sich wandelnde Erscheinungswelt hervor,
    • Heraklit sah das Urproblem im Verhältnis von Logos und dem Feuer als Grundlage des Werdens zur Erscheinungsvielfalt,
    • und Parmenides und Zenon erkannten im Begriff des Seins das Kriterium aller Gesetzlichkeit und der logischen Wahrheit.
  • Die letzten vier Philosophen bemühten sich um die Überbrückung des Gegensatzes zwischen Heraklit und der Schule von Elea:
    • Empedokles fand in seiner Elementar- und Evolutionslehre eine mögliche Synthese,
    • Anaxagoras im streng durchgeführten Dualismus von Vernunft und der Vielfalt der Urstoffe,
    • und schließlich Leukippos und Demokritos in der Atomtheorie.

Wenn nun heute ein Philosoph oder Wissenschaftler einen neuen Ansatz sucht, so fällt er in eine der vorsokratischen Hypothesen zurück. Alle haben ihre Berechtigung; doch umfasst keine von ihnen, wie sie damals durchgeführt wurden, die Totalität der Erfahrung. So ergab sich als notwendige Folge dieser Entwicklung im griechischen Denken ein Relativismus und Pluralismus der Auffassungen, der in einer neuen Art des logischen Denkens ausklang: in den Sophisten.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
3. Das logische Denken
© 1998- Schule des Rades
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