Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

3. Das logische Denken

Sokrates

Sokrates wurde etwa 470 geboren und 399 hingerichtet. Die Anklage lautete, er habe die Jugend verführt, indem er die Götter, welche der athenische Staat annahm, nicht gelten ließe, sondern eigene dämonische Wesen einführe. Seine Feinde wollten ihm, um dem Odium der Verantwortlichkeit für die Verurteilung zu entgehen, die Flucht aus dem Gefängnis ermöglichen. Doch Sokrates weigerte sich; da er sein ganzes Leben den Gesetzen seiner Vaterstadt Folge geleistet habe, so müsse er sich auch ihrem letzten Richterspruch unterwerfen, obwohl er ihn für falsch halte; in seiner Antwort auf die Anklage, die Platon in der Apologie berichtet hat, verlangte er, dass ihm für seine Tätigkeit statt einer Verurteilung die größte staatliche Ehre zuteil werde. Zum Tode verurteilt, trank er gleichmütig, umgeben von seinen Schülern, 399 im Gefängnis zu Athen den Schierlingsbecher.

Die Lehre des Sokrates lässt sich nur schwer von der seines Schülers Platon trennen, weil dieser auch alle seine späteren Einsichten dem Meister in den Mund legte. Und dies mit Recht: die Art des Denkens des Sokrates stellt etwas überpersönlich Gültiges dar und geht ganz allein auf ihn zurück. Seine Lehre gipfelt in drei Hauptpunkten:

  1. dem Begriff der Tugend, der arete;
  2. der Entdeckung des daimonion, des Gewissens als Durchbruch zur Transzendenz, und
  3. der Ergänzung der Dialektik durch Induktion und Definition.

Für die Sophisten war jeder Standpunkt des Denkens gleichberechtigt: bei ihnen zählte nur der praktische Erfolg, die Überzeugung oder Überwindung des Gegners. Sokrates führte dagegen die Ethik, das Streben nach Vollendung ins Gespräch ein. Wie jedes Gerät eine bestimmte Funktion, eine Tugend hat — so sei es die Tugend des Schwertes, scharf zu sein — so habe auch der Mensch die Möglichkeit einer Tugend, einer Vollendung, die sich durch vier Ideale als Koordinaten bestimmen lässt: Wahrheit, Güte, Schönheit und Gerechtigkeit.

Keines der vier Ideale lässt sich ganz in der Erscheinung begreifen, sondern sie entstehen gleichsam aus dem Komparativ der Sprache: wir können erkennen, dass ein Körper schöner als ein anderer ist; und lernten wir viele schöne Körper kennen und lieben, dann begännen wir ein Bild der Schönheit zu gewinnen. Desgleichen begegnet uns auch die Gerechtigkeit nur in Beispielen der Annäherung, ebenso die Güte und selbst die Wahrheit; jede Erkenntnis wird durch eine neue wenn nicht in Frage, so doch in einen neuen Zusammenhang gestellt. Daher ist das den Menschen betreffende Wissen nicht endlich, sondern bedeutet eine unendliche Strebensrichtung.

Erst die Vereinigung der vier Ideale könnte als Weisheit betrachtet werden; der Mensch komme nie aus dem Streben heraus. Daher sei die richtige Bezeichnung für den Denker nicht Sophist als ein die Weisheit Besitzender, sondern Philosoph als ein nach Weisheit strebender.

Wie kann der Mensch wissen, dass er in seinem Streben nicht fehl geht? Hier entdeckte Sokrates in sich eine transzendente Stimme, die ihm dann, wenn er sich auf falschem Wege befand, Einhalt gebot: das Daimonion. Mit ihm hat der Mensch sein Orakel gleichsam in sich; seine Entdeckung bedeutete den Umschlag von der objektiven delphischen zu der subjektiven Religiosität: es ist die Stimme Gottes im Menschen. Vom späteren europäischen Begriff des Gewissens unterschied es sich darin, dass es sich als innere Stimme vernehmen ließ.

Diese Stimme sagte dem Sokrates niemals, was er tun müsse, sondern nur, was er unterlassen solle. Wie kam er nun zu einer positiven Bestimmung des Strebens? Er erreichte diese aus der Methodik seines Denkens, indem er der Dialektik des Parmenides, der syllogistischen Deduktion, zwei neue Denkwege beifügte, die Induktion und die Definition.

Die erste denkerische Tat der Vorsokratiker war die Erfindung der Deduktion: aus einer oder mehreren Voraussetzungen versuchten sie die Totalität der Wirklichkeit abzuleiten und zu erklären. Parmenides fand das erste Kriterium, um Wahrheit und Irrtum oder Schein zu scheiden: mittels des Begriffs des Seins, der Kopula, kann man die Wirklichkeit oder Möglichkeit einer Aussage bestimmen und von der Doxa zur Episteme, von der Meinung zum verstandenen und gesicherten Wissen aufsteigen. Mit den Sophisten, vor allem durch Gorgias, war zur Dialektik der Satz des Widerspruchs und des ausgeschlossenen Dritten getreten: etwas kann unmöglich gleichzeitig sein und nicht sein, und im Rahmen dieses Gegensatzes gibt es keine dritte Alternative. Sokrates ergänzte dieses Denken mittels Hinzufügung der Induktion oder Mimesis (Nachahmung) und der Definition. Erhellen wir diesen Zusammenhang an einem später von Platon in seinem siebten Brief benützten Beispiel, dem Kreis:

  1. Deduktion: der Kreis ist ein Wort mit einem bestimmten Vorstellungsinhalt, der Eigenschaften wie Rundheit, Ausdehnung und Begrenztheit einschließt.
  2. Definition: Der Kreis ist eine Linie, von der jeder Punkt sich in gleicher Entfernung zu einem einzigen anderen Punkt befindet, zum Mittelpunkt.
  3. Induktion oder Mimesis: Kein Kreis, dem wir in der Erfahrung begegnen, entspricht ganz der geometrischen Anschauung. Jede Linie hat eine bestimmte Dicke und muss schon deswegen den Forderungen der Geometrie widersprechen. Mimesis bedeutet vom Unvollendeten auf das Vollendete, vom Abbild auf das Urbild zu schließen, also z. B. in einem Teller den geometrischen Kreis wiederzufinden.

Die sokratische beziehungsweise die platonische Dialektik — denn hier lassen sich die beiden Gedankenwelten nicht mehr scheiden — bedeutete die Reife der logischen Philosophie, ihre klassische Periode, die mit der Klassik im griechischen Lebensstil in Architektur und Kultur übereinstimmte; sie bezeichnete den Höhepunkt Athens, das Zeitalter des Perikles. Doch in einem unterschied sich Sokrates von Platon. Sein Bestreben ging dahin, das Denken mittels der erweiterten Dialektik zur Selbständigkeit zu erwecken und zur Kenntnis der Tugend zu bringen, also zu dem der Menschennatur gemäßen Verhalten; er bezeichnete seine Lehre als Maieutik, als die Tätigkeit einer geistigen Hebamme, wie er auch selbst Sohn einer Hebamme und eines Bildhauers war; wie der letztere die im Stein verborgene Gestalt aus dem Material auslöse, so gelte es das im Menschen vorhandene Denken zu wecken und nicht Wissen zu lehren; Sokrates betonte immerzu, dass er nichts wisse. Gleichzeitig hatte aber das Orakel in Delphi verkündet, er sei der weiseste aller Griechen. So glich er dem Vorbild des Weisen im Spruch des Tao Te King

Wer mit klarem Blick alles durchschaut
kann wohl ohne Kenntnis bleiben.

Nicht die Anhäufung von Wissen, sondern die Assimilierung der Kenntnisse, ihre Verkörperung ist das Ziel der sokratischen Philosophie. Alles Wissen soll zum Organ werden, im gleichen Sinn wie dem Sehenden das Auge und dem Hörenden das Ohr. Und doch kann man dieses Wissen, das zur Tugend führt, auch inhaltlich beschreiben; dies war das Anliegen des platonischen Werkes.

Die vorsokratischen Philosophen wollten die Totalität der Wirklichkeit aus einem Prinzip erklären, um das Denken aus der mythischen Gebundenheit zu befreien. Aber keinem gelang es, alle Erscheinungen zu erklären; so kam es zu der Vielfalt der sophistischen Meinungen, die die alte Lebensganzheit, die Geborgenheit im Mythos zerstörten. Platons Weg war nun entgegengesetzt: anstelle einer Arché hatte er ein menschliches Vorbild, den Sokrates; und an diesem Vorbild versuchte er das Wissen in die Ganzheit unter Einschluss des Mythos auf dem Weg der Dichtung zurückzuführen.

Die vier erwähnten sokratischen Begriffe der Dialektik stehen in Entsprechung zum Wesenskreis. Sokrates gelang die begriffliche Gewissheit durch folgende Koordinaten:

  • durch die genaue Vergegenwärtigung des Gegenstandes, welche der Achse des Empfindens, des Wachseins entspricht, in der Deduktion;
  • durch die wissenschaftliche Definition, welche die Achse des geschichtlichen Denkens verkörpert;
  • durch die Induktion oder Mimesis, das Wiedererkennen der Urbildes im Nachbild, des Vollendeten im Unvollendeten, des Kreises im Teller, welches dem traumhaften Fühlen entspricht;
  • und schließlich durch die Vereinigung dieser drei Bestimmungsarten, durch ihre Synthese in Entsprechung zur Willensachse, die den Geist in der förderlichen Richtung nach Maßgabe des inneren Wachstums lenkt, während die negative Richtung — also im empedokleischen Sinn der Streit im Gegensatz zur Liebe — durch Hören auf die Stimme des Daimonion vermieden wird.
    Dialektik
    Wollen
    Schlaf

    Deduktion
    Empfinden
    Wachen
    D a i m o n i o n
    Traum
    Fühlen
    Induktion
    (Mimesis)
    Definition
    Denken
    Vorstellung

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
3. Das logische Denken
© 1998- Schule des Rades
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