Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

3. Das logische Denken

Die platonische Staatslehre

Es gibt nur wenig Menschen, die zur Ideenwelt Zugang haben. Meistens müssen sie sich hüten, anderen davon Kenntnis zu geben: das Beispiel der Verurteilung des Sokrates war allen noch in frischer Erinnerung. Doch der Mensch lebt nur dann seinem Urbild gemäß und in Einklang mit seinem Eros, seiner Strebenskraft, wenn er in der Ideenwelt sein Bewusstsein verankert. Aus diesem Grunde taugt die demokratische Gesellschaftsordnung nicht zur Errichtung eines Staates, in dem die Ideale ausschlaggebend sind: ein solcher könnte nur von begnadeten Einzelnen künstlich nach einem Plan geschaffen werden.

Wie einst Konfuzius suchte nun Platon seinen Plan mit Hilfe des Dions von Syrakus, dem Schwager des Tyrannen Dionysios, zu verwirklichen. Dreimal setzte er an, und dreimal sollte es ihm misslingen. Das letztemal mit neununddreißig Jahren wurde er sogar von Dionysios in die Sklaverei verkauft, und der Pythagoreer Archytas von Tarent beschaffte das Lösegeld. Als die Freunde Platons es ihm später zurückerstatten wollten, verweigerte er die Annahme; aus dieser Summe wurde dann der Hain des Akademos gekauft, nach dem die dort befindliche Schule Akademie benannt wurde.

Die platonische Staatslehre entfaltet sich aus seiner Psychologie, die drei Seelenteile annahm, welche er im Bild eines Wagenlenkers mit einem Doppelgespann im Dialog Phaidros veranschaulichte. Die beiden Rosse sind naturhaftes Begehren und edle Affekte. Die Vernunft ist der Lenker. Ihnen entsprechen drei Tugenden:

  • die des vernünftigen Teils ist die Weisheit, sophia,
  • die der edlen Affekte die Tapferkeit, andreia,
  • und die des begehrlichen Teils das Maßhalten oder die besonnene Selbstbeherrschung, sophrosyne.
  • Die drei werden vereint in der Rechtschaffenheit der Seele, der Gerechtigkeit, dikaiosyne, die Tugend und Ideal verbindet.

Aus dieser Seelenlehre erfließt Platons Staatslehre mit den drei Ständen.

  • Dem vernünftigen Teil entspricht die Klasse der wenigen, die zur höchsten geistigen Bildung gelangt sind: die Philosophen. Sie sind die Regierenden, archontes, sie haben die Gesetze zu geben und die Befolgung zu überwachen; insbesondere obliegt ihnen als höchste Staatsaufgabe die Erziehung.
  • Den edlen Affekten der Seele entspricht als zweite Klasse die der Wächter, phylakes. Sie haben den Staat gegen äußere und innere Feinde zu sichern; ihre Tugend ist die Tapferkeit. Für die beiden oberen Stände forderte Platon die Aufhebung des Privateigentums, Frauen- und Kindergemeinschaft und gemeinsame Erziehung; sie sollten eine große Familie bilden.
  • Dem begehrlichen Seelenteil entspricht das Volk, die breite Masse der Ackerbauern, Handwerker und Kaufleute mit der wirtschaftlichen Tätigkeit, die den Bedürfnissen entspringen und deren Tugend das Maßhalten ist. Sie behalten Privateigentum und Familie und sorgen gleichzeitig für die wirtschaftlichen Bedürfnisse der beiden oberen Stände, die ihrerseits die materielle Wohlfahrt des dritten Standes gewährleisten, ohne ihm Anteil an der Regierung einzuräumen.
  • Als Unterschicht, also als vierter Stand, bleiben die Sklaven rechtlos. Platon fordert, dass kein Grieche zum Sklaven gemacht werden soll.

Wir haben also hier eine ähnliche Ordnung wie im mythischen indischen Denken mit den Kasten. Sie hat die Grundlage der späteren abendländischen ständischen Gliederung gebildet, an der auch noch der Marxismus anschließt, wenn er über die durch die französische Revolution erfolgte Befreiung des dritten Standes jene des vierten, des Proletariats anstrebt. Um seine ideale Staatsverfassung darzustellen, wählte Platon den Mythos von Atlantis. Diese Insel war laut ägyptischer Überlieferung achttausend Jahre früher bei einer großen Katastrophe, die damals fast alles Leben auf der Erde vernichtet hat, im atlantischen Ozean versunken. Platon schmückte den ägyptischen Bericht nach seiner Idealvorstellung aus und beschreibt eine Staatsverfassung, in der alle Bürger im Einklang mit der Ideenwelt gelebt hätten.

Der letzte Dialog, Timaios, bringt Platons Kosmologie: die Lehre vom pythagoräischen Chi als Weltenursprung, als Schöpfungsgerät des Demiurgen. Doch diese Lehre deutet er nur an; ihr Wesen lehrte er nur im innersten esoterischen Kreis seiner Schüler, da zu ihrem Verständnis, wie er in seinem siebten Brief andeutete, ein Überspringen des Funkens der Erleuchtung von Lehrer zu Schüler notwendig sei, das sich nur in einer vom Eros getragenen Gemeinschaft verwirklichen lässt.

Platon schuf die umfassendste philosophische Synthese der Antike; die Rückbindung zum Mythos wurde über die Dichtung vollzogen. Da diese Synthese aber nicht mehr durch Rückführung auf einen systematischen Ansatz im Sinne der Vorsokratiker zu bestimmen war, löste sein Schüler Aristoteles alle systematischen und logischen Ansätze aus dem Gedankengebäude und wurde damit zum Begründer des abendländischen logisch-wissenschaftlichen Denkens. Nach unseren heutigen Auffassung war Aristoteles allerdings immer noch Philosoph und nicht Wissenschaftler. Sein Bemühen ging auf die systematische Durchdringung der Gesamterfahrung. Er erkannte das heute wesentliche Kriterium der Wissenschaft, nämlich die Wiederholbarkeit eines Experiments, nicht als das einzig gültige an. Dennoch unterscheidet sich die Art seines Denkens grundsätzlich von der vorsokratischen: die platonische Weltdichtung, so sehr er sie auch im einzelnen anzweifeln mochte, bildete im gleichen Maße den Hintergrund seines Forschen, wie für die früheren Philosophen die homerische und hesiodische Prägung des olympischen Mythos.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
3. Das logische Denken
© 1998- Schule des Rades
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