Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

3. Das logische Denken

Aristoteles

Aristoteles wurde 384 in Stageira als Sohn eines Arztes geboren. Seit seinem achtzehnten Lebensjahr war er Schüler Platons und blieb dies durch zwanzig Jahre. Nach Platons Tod ging er in verschiedene andere Städte und wurde von 343-340 der Erzieher Alexander des Großen. Bald nach Alexanders Regierungsantritt gründete er seine Schule zu Athen, das Lykeion, das er durch zwölf Jahre leitete. Nach Alexanders Tod der Unfrömmigkeit angeklagt, verließ er Athen, damit sich die Athener nicht ein zweitesmal an der Philosophie versündigten und starb 322 in Chalkis.

Von Platon unterscheidet sich Aristoteles in vielen Anschauungen; vor allem darin, dass er die Existenz der Ideenwelt bezweifelte. Seine wesentliche philosophischen Leistung ist die Entdeckung der Kategorie, die er bewusst an die Stelle der prälogischen Zahlbegriffe der pythagoräischen Tradition setzte, wobei aber der Zifferncharakter in den Hintergrund trat. Die Urkategorie ist die Substanz, Hypostase, die der pythagoräischen Null entspräche. Als Prädikate sind ihr folgende Kategorien untergeordnet: Qualität, Quantität, Relation, Ort, Zeit, Lage, Haben, Tun und Leiden. Diese Kategorien bilden gleichsam das Spinnennetz des Denkens, in dem sich die Erfahrung fangen muss.

Wie kann man aber nun feststellen, ob das mit diesen Kategorien Erfasste wahr oder falsch ist? Die Antwort gibt der Syllogismus, der folgende Urform hat:

Alle Menschen sind sterblich.
Sokrates ist ein Mensch.
Also ist Sokrates sterblich.

Dieser Syllogismus bedeutet einen wissenschaftlichen Schluss, eine Deduktion: sie geht vom Allgemeinen ins Besondere. Alle Menschen ist das Allgemeine, Sokrates ist das Besondere, und beide werden mittels der Kopula sein mit dem Prädikat sterblich verbunden. Das Gegenteil der Deduktion ist die Induktion, die sich durch Zusammenstellung der Einzelnen und Besonderen zum Allgemeinen erhebt, wie sich auch Fische und Säugetiere als Lebewesen zusammenfassen lassen. Außer diesen beiden wissenschaftlichen Schlüssen und Beweisen kennt Aristoteles noch den dialektischen Schluss, der einen Prüfungsschluss aus dem Wahrscheinlichen bedeutet, also der platonischen Induktion oder Mimesis entspricht; und als sophistischen Schluss bezeichnet Aristoteles den Fehl- und Trugschluss aus falschen Voraussetzungen oder durch täuschende Kombination.

Als metaphysisch-logische Prinzipien, aus denen die Möglichkeit einer Beweisführung und der sicheren Erkenntnis überhaupt abgeleitet wird, gelten für Aristoteles der Satz vom Widerspruch und der Satz vom ausgeschlossenen Dritten; wenn ein Satz wahr ist, dann ist sein Gegenteil nicht wahr; Sokrates ist sterblich und nicht unsterblich. Wenn ferner ein Satz wahr und sein Gegenteil nicht wahr ist, so gibt es im Rahmen der gebrauchten Begriffe nur diese beiden Möglichkeiten und keine dritte.

Hiermit ist, falls die Wahl der ursprünglichen Kategorien wahrheitsgemäß wäre, es theoretisch möglich, die gesamte Wirklichkeit ohne weitere philosophische Spekulation denkerisch zu erfassen und systematisch zu ordnen. Die früher zitierten aristotelischen Kategorien genügen nun freilich nicht zur Gänze diesen Anforderungen; doch für das dem Aristoteles zugängliche Wissen waren sie ausreichend, um in neue Gebiete der Erfahrung vorzustoßen.

Die Kategorien umreißen den Rahmen des Denkens. Um den Inhalt des Wissen zu bestimmen, gebrauchte Aristoteles vier Grundbegriffe: die Formursache, die Stoffursache, Wirkursache und Zweckursache. Alles, was besteht, setzt sich aus Stoff und Form zusammen. An sich sind beide metaphysische Begriffe, die nicht in der Erfahrungswelt anzutreffen sind. Doch mittels ihrer lässt sich jegliches Ding erklären:

  • Stoff ist die gestaltlose Materie,
  • und Form das Prinzip, das sie zu gestalten vermag.

Hieraus erklärt sich logisch das Verhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit: damit etwas sich wandeln kann, muss das Mögliche als nicht im Wirklichen enthalten sein; ein dunkles Zimmer ist nicht hell. In diesem nicht-hell liegt seine Potentialität, einmal hell werden zu können; so bedeutet Negation gleichzeitig Potentialität; eine Klärung des Gedankens von Anaximander, dass das Unendliche dem Endlichen zugrunde liegt. Nun wird aber bei Aristoteles die Potentialität dem Pol der Materie und nicht der Form zugeschrieben, während die Form, mit welcher er die Gottheit identifiziert, als Aktualität — später in der Scholastik in actus purus umformuliert — bestimmt wird. Das reine Formprinzip bringt aus ewiger Ruhe als erster Beweger die Materie zur Entfaltung.

Wie entfaltet sich die Materie nun? Hier treten die beiden anderen Grundbegriffe in ihr Recht: die Entfaltung erfolgt nicht aus den platonischen Ideen, sondern die Individualität entstammt dem Stoff. Die Wirklichkeit besteht aus einer unendlich großen Anzahl von Einzelwesen oder Wirkursachen, die in sich die Möglichkeit haben, sich mit allgemeinen Charakteristiken zu bekleiden. Diese Tendenz, zu einem bestimmten Zweck zu reifen, nannte Aristoteles entelecheia, die Strebensrichtung eines jeglichen Wesens.

Mit dieser Entelechie behält Aristoteles die Idee Platons in neuer Fassung bei; im Unterschied zu den modernen Wissenschaftlern ist er also kein reiner Nominalist. Die Bedeutung der Entelechie lässt sich im Wesenskreis erklären, dessen Mitte sie bildet:

  • die reine Form entspricht dem Mythospol und dem Weltwillen;
  • die reine Materie der Mannigfaltigkeit des Lebens, die im Denken über Syllogismus und Induktion zu erfassen ist.
  • Die Wirkursache entspricht dem Triebcharakter des Traumes,
  • und die Zweckursache bezeichnet die erfüllte Gestalt.
Form
Gott
Zweck
Gestalt
Entelechie
Materie
Welt
Wirkursache
Trieb

Gott als Formprinzip steht in Ruhe. Kosmologisch ist er der erste Beweger, der die Fixsternsphäre bedingt, während die stoffliche, raumzeitliche Wirklichkeit mit ihrem Werden und Vergehen als sublunare Sphäre bezeichnet wird. Die Ruhe Gottes ist gleichzeitig Kontemplation, das Denken in sich selbst. Die Entelechie sehnen sich nach dieser Ruhe, doch sind sie in die Zeit verstrickt und damit dem Tod preisgegeben. Aber nicht zur Gänze: ihre Teilnahme am Formprinzip, am wirklichen Denken bringt ihnen die allerdings überpersönliche Möglichkeit der Unsterblichkeit. Die Dynamis, die Bewegung, gewinnen sie nicht aus der Form, sondern aus der Materie; sie ist es, die die Verbindung mit Werden und Vergehen schafft. Die Unsterblichkeit kann erst dann erreicht werden, wenn das Gemüt die Stille der Gottheit, des ersten Bewegers erlangt hat.

Platon erstrebte die Unsterblichkeit durch Teilnahme am Ideenreich, durch Methexis. Aristoteles versuchte die Ruhe in seiner Nikomachischen Ethik über den Weg der goldenen Mitte zu erreichen: es gilt sowohl die übergroße Aktivität, als auch die übergroße Passivität zu vermeiden. Die Mitte zwischen Tollkühnheit und Feigheit ist der Mut; die Mitte zwischen Verschwendung und Geiz die Freigebigkeit. Aristoteles kam zu einem ganzen Katalog von Tugenden, die nicht wie bei Platon eine Wandlung des Gemüts voraussetzten, sondern aus dem normalen Leben heraus durch Vermeidung der Extreme zu verwirklichen sind.

In der Ethik bestimmte Aristoteles die Sittlichkeit als dynamisch: Tugend des Menschen sei es, jene Tätigkeit zu vollenden, auf die hin er entelechetisch angelegt ist. Zwar ist die höchste dianoetische Tugend — Weisheit und Klugheit — ihrem Wesen nach kontemplativ; aber der Weg zu ihr wird im Finden der Mitte der jeweils persönlichen Antithesen bestimmt, innerhalb derer sich die Entelechie entfaltet.

Wie Platon wollte auch Aristoteles das volle Bürgerrecht nur auf jene begrenzen, welche die Muße, sei es zur Philosophie, sei es zur staatlichen Verantwortung, besäßen; die demokratische Gleichberechtigung der wirtschaftstreibenden Bürger, wie sie in Athen herrschte, entsprach seinem Ideal nicht.

Zur Ethik und Dianoetik trat bei Aristoteles die Kunstlehre, die er als Poietik bezeichnete: das künstlerische Schaffen jenseits der Befriedigung der Bedürfnisse, welches er als philosophische Disziplin begründete. Zwar sah er das Wesen der Kunst in der Nachahmung, dem Abbild; doch das Abbild beziehe sich beim Künstler nicht auf die äußere Natur, sondern auf das innere Wesen des Darzustellenden. Es sei die Fähigkeit des Künstlers, vor allem des Dramatikers, durch die Kunst dasjenige, was sonst Unlust bereitet, in Lust umzugestalten, so wie etwa der Zuschauer einer Tragödie die Katharsis, die Läuterung miterlebt. Aus der Dramatik gewinnen wir auch ein tieferes Verständnis des Namens der aristotelischen Schule, die sich peripatetisch nannte, also herumwandelnd: in der Fünfteilung des Dramas war dies die vierte Stufe.

  • Die erste bringt die Exposition,
  • die zweite den Gegensatz,
  • die dritte die Krise.
  • In der vierten ist noch nichts entschieden, viele Möglichkeiten bestehen nebeneinander, sie ist also die peripatetische;
  • und erst die fünfte bringt die Katastrophe und damit das Ende.

So befindet sich die Philosophie zwischen Krise und Katastrophe: bevor ein Problem kritisch geworden ist, kommt es nicht zu seiner philosophischen Erhellung; und diese wird dadurch möglich, dass der Philosoph nicht erkenntnismäßig stur eine Lösung anstrebt, sondern die Gesamtheit möglicher Lösungen in Betracht zieht, um so eine negative Katastrophe abzuwenden.

Dianoetik, Ethik und Poietik wurden durch die Physik ergänzt, die Aristoteles als erster experimentell erforschte; vor allem Alexander der Große ließ ihn von seinen Feldzügen viel Forschungsmaterial zuschicken. Hier kam er nun, da ihm natürlich Mikroskope nicht zur Verfügung standen, zur Ablehnung der demokritischen Atomtheorie und auch zu einer Überwertung der Zweckursache gegenüber der Wirkursache, die für das wissenschaftliche Denken schwerwiegende Folgen haben sollte; erst die franziskanischen Nominalisten und die englischen empirischen Naturphilosophen befreiten sich aus dieser Denkweise. Doch bahnbrechend wurden seine Entdeckungen in Biologie und Physiologie, in all den Zweigen des Wissens, das der unmittelbaren Erfahrung zugänglich ist. Sein kategoriales und logisches Erkenntnisgerüst genügte für die damalige Zeit, um ein umfassendes wissenschaftliches System zu begründen, an dem alle späteren Forschungen anschlossen.

Wesentlich an der aristotelischen Philosophie — deren Wurzeln die vier Ursachen, die Kategorien und die Logik sind — ist, dass sie den Menschen zum Meister der Wirklichkeit machen kann. Hiermit verstehen wir die Bedeutung der Erziehung Alexander des Großen durch Aristoteles: selbst die kurze wissenschaftliche Ausbildung gab jenem die Gewissheit, dass alles in der Macht des Menschen selbst liege, falls er imstande ist, seine Erfahrung zu ordnen und damit zu meistern. Solche Meisterschaft war im mythischen Denken nur den Göttern zugebilligt worden; so war es eine notwendige Folge dieser Auffassung, dass Alexander nach seinen großen Siegen, die ihn bis nach Indien führten, sich selbst für einen Gott oder eine göttliche Inkarnation hielt und sich diesen Glauben von Priestern der eroberten Kulte wie des Jupiter-Ammon Widderorakels bestätigen ließ.

Mit Aristoteles mündete die logische Philosophie in die wissenschaftliche Systematik. Doch diese Systematik kann Fragen der Ethik, der Wert nach dem Sinn des menschlichen Lebens nicht schlüssig beantworten. Aristoteles hatte die Lehre von der goldenen Mitte in seiner nikomachischen Ethik als Ausweg angeboten. Diese überzeugte seine Nachfolger nicht, und so entstanden zwei Denksysteme, die den philosophischen Gegensatz zwischen Parmenides und Heraklit in neuer Form aufleben ließen: die stoische und epikuräische Philosophie.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
3. Das logische Denken
© 1998- Schule des Rades
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