Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

4. Das theologische Denken

Alexandrinische Theosophie

Unabhängig vom Versuch der griechisch-jüdischen Synthese entfaltete sich das Denken der Neupythagoräer. Diese bezeichneten sich mit Recht als Erneuerer des pythagoräischen Denkens. Platon hatte im Timaios die Eins, die er mit dem Guten identifizierte, an die Stelle der Null im Ausgangspunkt seiner Schöpfungslehre genommen und dadurch das Chi mythisiert. Die Neupythagoräer setzten wieder die Null in Form der qualitätslosen Einheit hinter die Eins und identifizierten sie mit dem unerschöpflichen Weltenursprung.

Doch diese Lehre, die in der Hauptsache von Nikomachos von Gerasa (140 n. Chr.) und Jamblichos (um 300 n. Chr.) formuliert wurde, konnte den Zusammenhang mit der logisch-dialektischen Methode nicht konsequent durchführen und blieb im Eklektischen haften. Fast alle Denker der Kaiserzeit bewegten sich in diesem Gedankenkreis — so Apollonius von Tyana, Eudoxos und Apuleius, der durch seinen Roman Der goldene Esel bekannt wurde, welcher zum erstenmal das Isismysterium popularisierte.

Die dritte philosophische Richtung, der Neuplatonismus, wurde von dem Syrer Ammonios Sakkas begründet, der von 175-272 lebte. Im Gegensatz zum platonischen Dualismus von Idee und Materie versuchte er, wohl unter dem Einfluss der indischen Philosophie, die Welt als Emanation des Unerschöpflichen darzustellen. Seine genaue Lehre ist nicht bekannt, da sie mit der seines großen Schülers Plotin verschmolzen ist.

Plotinos, 204-269, entwickelte die neuplatonische Lehre als erster in systematischer Form. Er glaubte die platonische und aristotelische Philosophie, die er als Einheit betrachtete, in ihrer eigentlichen Intention zu vollenden. Doch ging er einen Schritt weiter als Platon: das Eine Gute, die Ideensonne, verlegte er hinter beziehungsweise jenseits des Reichs der Ideen in die Transzendenz. Die Uridee erzeugt die Vernunft als ihr Abbild, an dem der Mensch in seiner Erkenntnis teilhat.

Die menschliche Erkenntnis gliedert sich in Sinnlichkeit-Triebhaftigkeit und Denken-Geist. Zwischen den beiden befindet sich die Seele, das Wesen; es durchdringt den Leib wie das Feuer die Luft. Das Wesen ist aus dem Nous, der Vernunft geboren; es ist nicht mit dem Körper identisch, sondern bedeutet dessen Kraftleib.

  • Im Geist erkennt der Mensch die Ideen,
  • im Wesen ist er bei sich selbst,
  • und im Fühlen identifiziert er sich mit der materiellen Welt.

Sowohl der Stoff der Ideen als auch der Stoff der Materie sind vom Ursprung geschaffen. Doch unterscheiden sich beide voneinander in ihrer Qualität;

  • der Mensch entfremdet sich durch Identifikation mit der Triebhaftigkeit und den Leidenschaften seiner Teilhabe an der geistigen Vernunft.
  • Durch philosophisches Denken, wohl im Gebrauch der platonischen Dialektik, kann er sie wieder erreichen, und vereint sich als letztes Ziel in ekstatischer Schau mit dem Urwesen.

Diese letzte Kontemplation ist das Ziel der irdischen Existenz; sie wurde Plotinos laut Angabe seines Schülers Porphyrios, welcher Plotins Schriften als Enneaden herausbrachte, mehrmals in seinem Leben zuteil.

Der letzte theosophische Denker, der Neuplatoniker Proklos, 410-485, fasste das gesamte philosophische Wissen seiner Zeit über eine triadische Dialektik, die auf dem Begriff der Mimesis beruhte, in einem fast scholastisch zu nennenden Kompendium zusammen. Mit ihm kam die griechische Theosophie an ihr Ende, und die geschichtliche Entwicklung wurde durch christliche Theologen weitergetragen, die in vielen Hinsichten an den theosophischen Begriffsprägungen anknüpften. 529 wurde dann endgültig durch den byzantinischen Kaiser Justinian die platonische Akademie in Athen geschlossen und der Philosophieunterricht im ganzen Reich untersagt. Die letzten griechischen Philosophen versuchten in Persien Fuß zu fassen; doch auch dort war ihnen kein Erfolg mehr beschieden. Damit endete die tausendjährige Geschichte der griechisch-logischen Philosophie. Doch vor ihrem Ende gab diese noch Anlass zur Geburt dreier neuer Bewegungen, die man unter dem Begriff der Gnosis zusammenfasst: der Astrologie, der Alchimie und der pythagoräisch vertieften Kabbala; die neuplatonische ekstatische Philosophie blieb unterschwellig als esoterische mystische Bewegung bestehen. Das Zusammenwirken der vier Richtungen lässt sich im Wesenskreis klar veranschaulichen:

  • die Alchimie gründet auf der Beobachtung, dem wachen Empfinden;
  • die Mystik — das Wort bedeutet was man mit geschlossenen Augen erlebt — auf dem triebhaften Fühlen,
  • die Astrologie auf dem Denken,
  • und die Kabbala schließlich, deren Ziel die Überwindung der Sprache im Erreichen des inneren Wortes darstellt, auf dem Wollen.
Kabbala
wollen
Alchimie
empfinden
Gnosis
Mystik
fühlen
Astrologie
denken
Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
4. Das theologische Denken
© 1998- Schule des Rades
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