Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

4. Das theologische Denken

Astrale Zuordnung der Evangelien

Gemäß der Symbolik der vier Zeichen wurde der gleiche Bereich in den Evangelien abgewandelt, und bestimmte Einzelheiten wurden apostrophiert. Das Matthäusevangelium betont den Zusammenhang mit dem kosmischen Denken. Es beginnt mit einem Geschlechtsregister, welches bis auf Abraham als Beginn der Widderzeit zurückgeführt wird im Unterschied zum Stierevangelium, das die Generationenfolge von Adam und damit von Gott selbst herleitet. Als einziger bringt Matthäus die Geschichte vom Stern von Bethlehem, laut Albertus Magnus und Kepler eine exakte Jupiter-Saturn-Konjunktion im Sternbild der Jungfrau im Jahre sechs vor Beginn unserer Zeitrechnung; ferner den Kindermord des Herodes und die Flucht nach Ägypten. Als nächstes kommt nach der Taufe des Johannes die Abweisung der Verführung des Satan zur weltlichen Herrschaft; und die erste Predigt, nach Erwählung der Fischer Petrus und Andreas als Apostel, war die Bergpredigt mit ihren Seligpreisungen.

  • Das Matthäusevangelium (Wassermann) betont die frohe Botschaft: wer Christus erkennt und ihm nachfolgt, der wird zwar das irdische Leben verlieren; doch wenn er konsequent seinem Glauben treu bleibt, wird er einer der wenigen sein, die das Himmelreich, das ewige Leben erben. Jeder Mensch ist zur Kindschaft Gottes berufen, doch wenige erreichen sie. Wer mit seiner Liebe alle Menschen umfasst — Wassermann ist das Symbol des Freundes — der braucht keine Sorgen mehr zu haben und soll sich vor allem nicht um den kommenden Tag kümmern. Im Vater-Unser erfährt er die richtige Einstellung; wenn er zu beten versteht, findet er schon auf Erden den Zugang zum Himmel. Denn:
    Wer bittet, dem wird gegeben; wer suchet, der findet; und wer klopfet, dem wird aufgetan.
    Erst anschließend an die Bergpredigt kommt eine Schilderung der Wunder und Heilungen. So steht die Verkündigung im Vordergrund. In der Mitte des Textes wird die Verklärung Christi auf dem Berg Tabor zusammen mit Moses und Eliah geschildert, zum Zeichen, dass damit die jüdische Aufgabe ihre Erfüllung findet; und Christus betont, dass Johannes die prophezeite Inkarnation des Eliah gewesen ist.

    Der Mensch ist Herr der Gesetze, nicht ihr Knecht; die einzigen Weisungen, die über dem Menschen stehen, sind Gottesliebe und Menschenliebe. Anschließend folgt die Auseinandersetzung mit den beiden jüdischen Sekten, den Pharisäern und den Sadduzäern. Den ersteren gegenüber betont Christus, dass die Herrschaft des Himmels von der Herrschaft der Welt verschieden sei:

    Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.

    Den Sadduzäern gegenüber weist er darauf hin, dass die Gesetze des Himmels nicht mit der irdischen Sittlichkeit identisch seien.

    Christus offenbart seine eigene Priesterschaft als eine, die über das jüdische Volk hinausgeht. Er bezieht sich ausdrücklich auf den 110. Psalm, in dem David spricht:

    Der Herr sprach zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten…;

    und weiter

    Der Herr hat geschworen und es wird ihn nicht gereuen: Du bist ein Priester ewiglich nach der Weise Melchisedeks.

    Der Psalm zeigt, dass zwischen Gott und den Menschen noch ein weiterer Herr gesetzt ist, als welcher Christus sich zu erkennen gibt. Melchisedek war ein Priester des wahren Gottes außerhalb des jüdischen Stammes, dem selbst Abraham den Zehnten gab, nachdem jener ihn gesegnet hatte. So geht die Bedeutung Christi über das jüdische Volksschicksal hinaus. Das Evangelium schließt mit der Aufforderung, alle Völker im Namen des dreieinigen Gottes zu taufen.

  • Das Markusevangelium steht unter dem Symbol des Löwen. Hier ist die Taufe des Johannes im Vordergrund: er tauft mit Wasser, aber Christus wird mit dem heiligen Geist taufen. Die Tätigkeit Christi beginnt mit der Heilung des Besessenen; Raphael, der Engel des Löwen, gilt als der Heiler Gottes. Des weiteren steht im Einklang mit der astrologischen Bedeutung des Löwezeichens das Kind im Mittelpunkt. Die Natur ist auf die Menschwerdung hin angelegt; wer dem natürlichen inneren Sinn folgt, der wird zum echten Glauben kommen. Dem Glaubenden sind alle Dinge möglich. Wie im Matthäusevangelium ist auch bei Markus und später bei Lukas das Abendmahl die Gewähr, dass die Erinnerung an Christus erhalten bleibt.
  • Das Evangelium des Lukas, im Zeichen des Stiers und des Erzengels Gabriel, beginnt mit der Geburt von Johannes und der Ankündigung des Engels. Während bei Matthäus die Botschaft und Rede, die Lehre im Vordergrund steht und bei Markus die Heilung und Gotteskindschaft, liegt der Schwerpunkt bei Lukas auf den Wundern; deshalb schließt es am meisten an das mythische Denken an, das es aber gleichzeitig auf Erlebnisse bezieht, denn der Stier bedeutet im Tierkreis den Schwerpunkt des Empfindens. So wird auch hier allein die Jugend Jesu geschildert; das Auftreten des Zwölfjährigen im Tempel, wo er schon darauf hinweist, dass Gott allein sein Vater sei. Seine Herkunft wird, wie schon gesagt, genealogisch bis auf Adam und damit bis auf Gott selbst zurückgeführt.
  • Allen Evangelien gemeinsam ist die Kreuzigung, der Tod und die Auferstehung. Doch im vierten, dem Johannesevangelium, werden diese aus einem anderen Geist interpretiert: im Symbol des Adlers, der als Gefühl-Wasserzeichen mit dem neuen Aion der Fische in Beziehung steht, bringt dies Evangelium den Zusammenhang mit dem logisch-philosophischen Denken und wurde damit zum Mittel der Anknüpfung. Das Evangelium beginnt:
    Im Anfang war der Logos und der Logos war bei Gott und Gott war der Logos.

    Hierin schließt Johannes unmittelbar an die philosophische Vorstellung des Philon an, die er allerdings auch durch mythisches und kosmisches Denken ergänzt. Der Logos — als Wort, Sinn, Verstehensfähigkeit und auch Weg verstanden, ist die erste Schöpfung Gottes. Gleichzeitig aber ist er das Vorbild des endgültig erlösten Menschen in Christus. Dieser Mensch kann nur durch eine bewusste Läuterung entstehen. An anderer Stelle heißt es:

    Wer nicht wiedergeboren ist aus Wasser und Geist —

    also aus der seelischen Unterwelt und der Oberwelt —

    kann niemals das Himmelreich erlangen.

    Das erste Wunder des Evangeliums ist die Hochzeit von Kana, die Verwandlung von Wasser in Wein als Wasser mit Geist.

    Gott ist Geist, und die ihn anbeten, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.

    Mit diesem Satz entstand das christliche theologische Denken, das gegenüber dem theosophischen eine Richtungsänderung bedeutet. Jesus hatte versucht, den Logos von der menschlichen Wirklichkeit aus anzupeilen. Für Johannes und für die Jünger nach dem Pfingstwunder, der Ausgießung des Heiligen Geistes, und vor allem für Paulus, dem der Auferstandene Christus erschienen war, ist der Logos im Menschen Jesu offenbar geworden; und wenn er sich auf diesen lebendigen Christus einstellt, dann kann es ihm gelingen, den Weg zu seiner Vollendung im Glauben zu finden. So wird das Wort Gottes als Sinnbild der menschlichen Vollendung aufgefasst, das nicht nur die Prophezeiungen der Juden erfüllt hat, sondern auch der Sehnsucht der Griechen, Römer, Ägypter und der kleinasiatischen Völker die Antwort gab.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
4. Das theologische Denken
© 1998- Schule des Rades
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