Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

4. Das theologische Denken

Hieronymus - Ambrosius - Augustinus

Der Kernpunkt der orthodoxen Theologie blieb der auferstandene Christus, der mit dem Vater eins geworden ist. Der Kernpunkt der katholischen Theologie war dagegen der in der Geschichte gekreuzigte Menschensohn, wobei weiter die Beziehung zu Maria als Gottesgebärerin in den Vordergrund rückte, die bald an die Stelle der Kulte der großen Mutter im Mittelmeerraum trat. So standen einander in Byzanz und Rom statische und dynamische Theologie gegenüber.

Damit aber eine lateinische Theologie entstehen konnte, musste erst die Bibel in lateinischer Übersetzung vorliegen. Diese wurde als Vulgata durch den heiligen Hieronymus, der von 374 bis 420 lebte, geschaffen.

Ebenso wesentlich wie die Übersetzung war für Hieronymus sein Kampf gegen die pelagianische Häresie. Pelagius war ein Mönch aus Wales, der behauptete, der Mensch erreiche aus seinem freien Willen einzig auf Grund seiner guten Taten die Auferstehung, wenn sich sein Leben im Rahmen der orthodoxen Sittlichkeit vollzieht. Diese These stand in Widerspruch zu der Lehre von Christus als dem Logos der Fülle; erst wenn der Mensch diese ganze Fülle erreicht und verstanden hätte, würde er die Ebenbildlichkeit zu Christus errungen haben. Zwischen dem begnadeten Menschen, der der Fülle teilhaftig ist, und dem moralisch strebenden besteht nach Auffassung des Hieronymus kein gradueller, sondern ein absoluter Unterschied. Ferner bezweifelte Pelagius die Lehre von der Erbsünde, die doch die Voraussetzung dafür bildete, dass der Mensch über Christus in eine neue Rechtsgemeinschaft trat und damit das römische Reich heiligte.

Der zweite Theologe, Ambrosius, 340-397, sah sein Ziel weniger in der Bekämpfung von Häresien als in der Auseinandersetzung mit dem Kaiser über die Pflichten und Rechte von Kirche und Reich. Es gelang ihm nach langem Kampf in Mailand, das damals die Kaiserstadt war, die Stellung der Kirche als moralisch-ethische und damit über der kaiserlichen Autorität stehenden Macht zu festigen und zu institutionalisieren. Er erreichte, dass der Kaiser für ein Gemetzel, welches er auf Grund der Ermordung eines Hauptmannes in Thessaloniki unter der Bevölkerung angeordnet hatte, öffentlich in der Kathedrale von Mailand Buße tat. Damit war das dynamische Verhältnis zwischen Reich und Kirche begründet. Im Gegensatz zu Byzanz, wo geistliche und weltliche Macht in den Händen des Kaisers ruhten, galt der Papst als der geistliche und der Kaiser als der weltliche Stellvertreter Christi. Von Ambrosius stammt ferner eine christliche Pflichtenlehre, die nach dem Vorbild Ciceros abgefasst war und großen Einfluss auf die Organisation der Kirche hatte.

Der dritte weströmische Theologe, Aurelius Augustinus, wurde 354 in Afrika geboren und starb 430 als Bischof von Hippo während der Belagerung dieser Stadt durch die Vandalen. Mit ihm gewann die abendländische Theologie eine ganz bestimmte Prägung, die sich auf zweierlei Weise äußerte: einerseits als persönlich-existentielle Einstellung zum Heil, die im Willen begründet ist, und andrerseits in der Theorie der zwei Reiche, des göttlichen und des weltlichen.

In seiner Jugend war Augustinus zeitweilig ein Anhänger der gnostischen Sekte der Manichäer, welche in Nachfolge der persischen Lehre die irdische und fleischliche Existenz verdammten und nach Vergeistigung strebten. Zufolge ihrer Lehre sei die Welt von einem bösen Gott geschaffen, und der gute Gott Christus mit dem Propheten Mani hatte sie erlöst. Ein Teil dieser antifleischlichen Einstellung verblieb Augustinus zeitlebens; doch verwandelte er die statische Abkehr von der Welt in ein dynamisches Streben, dessen zentraler Begriff das Wollen bildete.

Die Stoiker hatten erklärt, der menschliche Wille sei dann frei, wenn er sich zur Gänze der Vernunft unterordne. Dies ist bezüglich des menschlichen Geschlechtstriebs nicht möglich; er erweist sich stärker als die Vernunft. Aus diesem Grunde zogen die Mönche seit dem heiligen Antonius in die Einsamkeit, um den Versuchungen zu entgehen; und selbst dort wurde ihnen die Enthaltsamkeit nur durch die Gnade Christi möglich.

Der Manichäismus kannte nun einerseits das geistige Leben in Reinheit, andrerseits die Verfallenheit an die Triebe und unterschied zwischen den beiden Zuständen. Das Ziel seiner Anhänger war, kontemplativ-statisch in der Reinheit zu leben. Augustinus fühlte sich immer wieder trotz aller Anstrengung in die Sünde zurückfallen. Doch diese Sünde sei ja nicht nur sein eigenes Verschulden, sondern Teil der Erbsünde, die durch Christus überwunden ist. Wenn es also gelänge, die Fülle des Logos zu lieben — Liebe und Wille waren für Augustinus zwei Aspekte der gleichen Gemütskraft — dann könne der Mensch trotz der Sündigkeit die Heiligkeit erreichen. In seinen Bekenntnissen schildert er diesen Kampf mit sich selbst als dauernde Auseinandersetzung. Ein Christ ist für ihn derjenige, der sich immer im Sündzustand weiß, immer wieder in Verfehlung zurückfällt — ebenso wie Petrus, der den Herrn verleugnete und doch wieder zu ihm zurückfand, zum Fels der Kirche erklärt wurde — doch dem das Evangelium die Gewissheit gibt, dass sein Leben ihn dereinst zum Heil führt, wenn er dieses auch nie zu erkennen vermag.

Allein der Zweifel ist es, was ihn seiner Existenz versichern kann. Aus dieser existentialistischen Stimmung kam Augustinus zur totalen Ablehnung aller griechischen und orientalischen Weisheitslehren des kosmischen und mythischen Denkens und der Gnosis, welche die Theologie fortan mit dem Manichäismus identifizierte. Der Weg des geistig strebenden Menschen gleiche nicht dem Kreislauf der Sonne um die Erde, sondern dem linear offenbarten Ablauf der Heilsgeschichte; die Erlösung ist das Ziel, und die Klippen auf dem Weg gilt es zu überwinden.

Diese Überwindung erfolgt nicht persönlich, sondern in der Gemeinschaft der Gläubigen in der Kirche; außerhalb der Kirche gebe es kein Heil. Zur Zeit Augustinus war nun Rom von den Goten erobert und geplündert worden. Viele der alteingesessenen Familien glaubten, diese Eroberung sei eine Folge davon, dass man den alten römisch-griechischen Götterglauben aufgegeben habe. Als Antwort gegen diese Vorwürfe schrieb Augustinus seine Civitas Dei, den Gottesstaat. Auf der Welt gebe es zwei Herrschaftsordnungen: die weltliche und die geistliche. Die weltliche unterliege dem Zyklus von Werden, Reife und Vergehen, so wie einst Babylon die Hauptstadt der Welt gewesen ist und später Rom. Doch die geistliche, die Gemeinschaft der Kirche, entwickle sich nicht zyklisch, sondern linear; sie zeige eine fünfstufige Ordnung:

  1. Paradies
  2. Sündenfall
  3. der Erlöser Christus
  4. das Jüngste Gericht
  5. die Auferstehung, das Neue Jerusalem

Das Paradies wurde zerstört durch den Ungehorsam Adams. Seither leben die Menschen in der Sünde, deren Folge der Tod ist. Zur Aufhebung dieser Sünde, der Schuld Adams, habe Gott seinen eingeborenen Sohn Christus auf die Erde geschickt, der stellvertretend für die Menschheit den Opfertod starb. Damit sei die Erde erlöst. Doch sowohl der Einzelne als auch die Gemeinschaft der Kirchen müssen diese Erlösung bewusst nachvollziehen, durch Teilnahme am Logos und über Anjochung des Willens. Vor dieser Erlösung, welche der gnadenhaften Mitwirkung des Heiligen Geistes bedarf, stehe die Gestalt des wiederkehrenden Christus im Jüngsten Gericht: wer vor diesem bestehe, erlange die echte Auferstehung als Unsterblichkeit und bildet zusammen mit Gott und den Engeln das Neue Jerusalem, wie es in der Offenbarung des Johannes verheißen wurde.

Fortan wurde das augustinische Geschichtsschema zum Motor der abendländischen Entwicklung; selbst das marxistische Denken folgt ihm bis in die letzten Einzelheiten, nur unter anderer Bezeichnung der Stufen. Doch mit der Erkenntnis dieses Schemas trat im westlichen Abendland die Theologie in den Hintergrund, wohl auch deswegen, weil die tatsächliche Herrschaft von den Römern auf die germanischen Völker mit ihrer ganz anderen Mentalität übergegangen war. Gleichzeitig begann im Osten der Siegeszug im Islam, der binnen kurzem ganz Nordafrika und Südasien bis nach Nordindien und Indonesien eroberte und bis an die chinesische Grenze vorstieß. Seine Betrachtung führt uns aus dem theologischen Denken heraus in den theokratischen Denkstil: der Suche nach einer Rechtfertigung der Macht und der Herrschaftsordnung aus der Offenbarung.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
4. Das theologische Denken
© 1998- Schule des Rades
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