Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

8. Das rationalistische Denken

René Descartes

Die vollständige Trennung von der Scholastik wurde erst bei den französischen Rationalisten erreicht. René Descartes, 1596-1650, aus altem Geschlecht der Tourraine, wurde auf der von Heinrich IV. gegründeten Jesuitenschule La Flèche erzogen, wo er einerseits die alten Sprachen lernte, andrerseits aber auch die scholastische Metaphysik, Logik und Physik studierte. Um sich seinen Forschungen in Ruhe widmen zu können, wählte er nicht die Lehrerlaufbahn, sondern das freie Leben eines Adeligen. Er verkaufte seine Güter — was ihm eine zum Leben genügende Rente einbrachte — diente in verschiedenen Heeren und verkehrte in der Hauptsache mit Weltleuten; eine seiner berühmtesten Schülerinnen war Liselotte von der Pfalz. Um allen verständlich zu sein, gab er die mühsame scholastische Beweisführung auf und befleißigte sich eines leichtfasslichen Stils. Er zog sich auf mehrere Jahre nach Holland zurück, wo er seine wesentlichen Werke verfasste. Die Königin Christine von Schweden ersuchte ihn schließlich, als Lehrer zu ihr zu kommen. Dort erlag er bald dem rauhen nordischen Klima, vor allem, da sie ihren Unterricht immer um fünf Uhr früh verlangte. Allem denkerischen Bekennertum abhold — die Hinrichtung des Bruno war noch in frischer Erinnerung — veröffentlichte er nur wenig; sein großes Werk über die Philosophie der Welt ist nie erschienen. Zwei Bücher brachten ihm Anerkennung: Le Discours de la Méthode und die Meditationes de Prima Philosophia.

Mit dreiundzwanzig Jahren erfand Descartes die analytische Geometrie, welche Geometrie und Arithmetik oder Algebra über das Koordinatenkreuz vereint. Diese Entdeckung steht in engem Zusammenhang mit seinem philosophischen Ansatz; deshalb wollen wir seine diesbezüglichen Bemerkungen zitieren:

Ich hatte mich unter den philosophischen Wissenschaften mit der Logik, unter den mathematischen mit der Geometrie und Algebra beschäftigt. Bei näherer Untersuchung merkte ich, dass die syllogistischen Unterweisungen nur dazu dienen, anderen Leuten etwas zu entwickeln, was man selbst schon weiß. Was aber die bereits im Altertum bekannten geometrischen Analysen betrifft, so sah ich, dass sie an die Betrachtung der Figuren gebunden sind und den Verstand nicht üben, ohne zugleich die Einbildungskraft in Mitleidenschaft zu ziehen. In der Algebra der Neuzeit dagegen hat man sich gewissen Formeln und Chiffren so sehr unterworfen, dass eine abstrakte Kunst daraus entstand, die den Geist ermüdet, anstatt ihn zu bilden; und darum meinte ich, man müsse eine neue Methode suchen, welche die Vorteile von Logik, Geometrie und Algebra in sich begriffe, von ihren Mängeln jedoch frei sei.

Die kartesische analytische Geometrie, die Kurven mit Hilfe der Koordinaten des Achsenkreuzes erklärt und damit Anschauung und Begriff vereint, brachte ihn zur Bestimmung zweier Kriterien echten Denkens: Klarheit und Deutlichkeit; Klarheit als Veranschaulichung, und Deutlichkeit als genaue begriffliche Bestimmung und Abgrenzung. Woher nahm aber Descartes die Sicherheit seines Ansatzes? Er beschreibt es in seinen Meditationen:

Von meiner Jugendzeit an habe ich eine Menge überlieferter Ansichten als wahr angenommen und weiter darauf gebaut. Was aber auf so unsicherem Grunde beruht, kann nur sehr ungewiss sein. Es tut daher not, sich irgendeinmal im Leben von allen überkommenen Meinungen loszumachen und vom Fundament an einen Neubau aufzuführen. Die Sinne täuschen oft; ich darf ihnen daher in keinem Fall unbedingt trauen. Der Traum täuscht mich durch falsche Bilder; ich finde aber kein sicheres Kriterium, um zu entscheiden, ob ich in diesem Augenblick schlafe oder wache. Vielleicht ist unser Körper nicht so, wie er sich unseren Sinnen darstellt. Dass es überhaupt Ausdehnung gebe, scheint sich freilich nicht wohl bezweifeln zu lassen.
Wie Archimedes nur einen festen Punkt forderte, um die Erde bewegen zu können, so werde ich große Hoffnung fassen können, wenn ich glücklich genug bin, auch nur einen Satz zu finden, der mir völlig gewiss und unbezweifelbar ist. In der Tat ist eines gewiss, während mir alles als ungewiss erscheint, nämlich eben mein Zweifeln und Denken selbst und daher meine Existenz.
Indem ich denke, dass ich sei, so beweist eben dieses Denken, dass ich wirklich bin. Der Satz: ich denke, ich existiere — ist allemal, da ich ihn ausspreche oder denke, notwendigerweise wahr. Cogito ergo sum; nur das Denken ist mir gewiss.

Da nun das Denken als Ausgangspunkt den Begriff des Unendlichen hat, um das Endliche erfassen zu können, ist dieses Unendliche wirksam; es hat sogar eine größere Realität als das Endliche. Descartes vereint hier die Gedanken von Anaximander und Pythagoras. So kommt er zu einer ihm unbezweifelbaren Erfahrung Gottes als Ursprung der Welt, mit dem der Mensch im Denkakt eins werden kann.

Doch Denken und körperliche Ausdehnung sind verschieden. Hiermit gelangte Descartes zu einem streng durchgeführten Dualismus von Geist und Körper. Als Bindeglied zwischen beiden, als Sitz der Seele, betrachtete er die Zirbeldrüse. Die Natur, die körperliche Welt sei mechanisch zu verstehen, der Geist mathematisch; die Seele erkenne dagegen die Qualitäten in sich selbst in ihrer Vorstellung.

Die Zweiweltentheorie, die auch heute noch in der Teilung zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften nachwirkt, gab Anlass zu vielen Angriffen. Seine Methode der Klarheit und Deutlichkeit als philosophische Kriterien fand dagegen allgemeine Anerkennung. Er fasste sie in vier Grundsätzen zusammen:

  1. Nichts für wahr zu halten, was nicht mit Evidenz als wahr erkannt sei, indem es sich mit einer jeden Zweifel ausschließenden Klarheit und Bestimmtheit dem Geiste darstellt.
  2. Jedes schwierige Problem in seine Teile zu zerlegen.
  3. Ordnungsmäßig zu denken, indem vom Einfacheren und Leichteren sukzessive zum Komplizierteren fortgegangen wird, und selbst da, wo nicht durch die Natur des Objektes eine bestimmte Ordnung gegeben ist, um des geordneten Fortschritts der Untersuchung eine solche angenommen wird.
  4. Durch Vollständigkeit in Aufzählung und Allgemeinheit sich zu vergewissern, dass nichts übersehen wird.

Zuerst als Anhänger, doch später als Gegner versuchte der geniale Mathematiker Blaise Pascal, 1623-1662, die geometrische Methode zu vervollkommnen. Religiös stark vom augustinischen Jansenismus beeinflusst, glaubte er zuerst eine vollständige mathematisch-geometrische Ableitung der Welt aus Gott erstellen zu können. Später verzweifelte er an seinem Bemühen und wurde, wohl unter dem Einfluss der Schriften Montaignes, Skeptiker und Gefühlsmystiker. Er erklärte den Gott der Philosophen, das Absolute, für eine gefährliche Illusion; nur der lebendige Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs könne den Menschen zum Heil führen. Auch ein anderer ursprünglicher Kartesianer, Pierre Bayle, 1647-1705, bekannt durch seinen Dictionnaire Historique et Critique, in dem er in aller Schärfe die doppelte Wahrheit von Glauben und Wissen vertrat, dabei aber betonte, dass gerade das Mysterium, das Absurde die Voraussetzung des Volksglaubens bilden müsse, fiel in die skeptische Einstellung ab. Nicolas Malebranche, 1638-1715, stieß sich an der Theorie der zwei Substanzen und wollte diese Spaltung durch die platonische Methexis, durch Teilnahme an den Ideen im Sinne der rationes seminales überwinden. Das Eingreifen Gottes verstand er als Vereinigung von Körper und Geist. Hier war er dem Okkasionalismus des Arnold Geulincx, 1625-1664, ähnlich, der behauptete, die Vereinigung vollziehe sich jeweils bei Gelegenheit durch die Mitwirkung Gottes.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
8. Das rationalistische Denken
© 1998- Schule des Rades
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