Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

8. Das rationalistische Denken

Gottfried Wilhelm Leibniz

Gottfried Wilhelm Leibniz (ursprünglich Lubeniecz) wurde 1646 in Leipzig geboren und starb 1716 in Hannover. Er studierte Rechtswissenschaft und Philosophie in Leipzig und Jena. Gleich Descartes wandte er sich vom Lehrberuf ab, arbeitete frei für sich und widmete seine Zeit diplomatischen Aufträgen, vor allein im Bestreben, eine Vereinigung der Konfessionen herbeizuführen und die zwischenstaatlichen Beziehungen im Sinne des Friedens zu reformieren. Großen Einfluss auf die Entwicklung seiner Anschauung und Lehre hatten seine Freunde: der Pariser Antoine Arnauld, 1612-1694, auf dessen Rat er die Veröffentlichung seiner logisch-mathematischen Schriften zurückhielt, die erst um 1900 bekannt wurden; der schon erwähnte Malebranche, über den er seine Bekanntschaft mit dem kartesischen Werk vertiefte; der Mathematiker Christian Huygens, 1629-1695, der ihn als väterlicher Freund in seinen Studien beriet. Auch ein Briefwechsel mit Newton wird entscheidenden Einfluss auf seine Entwicklung genommen haben. Doch verwandelte sich die Bekanntschaft bald in Streit über die Priorität bei der Entdeckung des Infinitesimalcalculus, den beide unabhängig voneinander und in verschiedener Form entwickelt hatten. Sehr viel beschäftigte er sich auch mit dem mathematischen Nachlass von Pascal. Doch wohl am wesentlichsten für seine philosophische Entwicklung war seine Begegnung mit Spinoza, die zur Klärung seiner Monadologie führte.

Auch seine juristisch-politischen Studien setzte er fort. Nachdem er eingesehen hatte, dass seine Versuche einer Versöhnung der evangelischen und katholischen Kirche zum Scheitern verurteilt waren, widmete er sich in seinen letzten Jahrzehnten der Ausarbeitung der Verfassung gelehrter Gesellschaften, der Akademien der Wissenschaften, die sich bald überall nach seinen Plänen entwickelten. Die letzten Lebensjahre verbrachte er als Bibliothekar des Herzogs von Hannover.

Leibniz war der gebildetste Mann seiner Zeit, mit der durchdringendsten Denkkraft seit Aristoteles. In gleichem Maße wie die scholastischen Lehren studierte er die esoterischen Traditionen. Durch mehrere Jahre war er Sekretär der Nürnberger Rosenkreuzer und verwaltete ihre Arcana, die Geheimlehren, und seine erste philosophische Konzeption einer Mathesis Universalis, einer kombinatorischen Begriffssprache, die er als zwanzigjähriger Magister 1666 als Dissertatio de arte combinatoria veröffentlichte, hatte ihren Anstoß in seiner Bekanntschaft mit der chinesischen kombinatorischen Philosophie des Buchs der Wandlungen, das damals über Vermittlung von jesuitischen Missionaren im Westen bekannt wurde.

Aristoteles hatte die Logik auf den Syllogismus mit seinen verschiedenen Formen und die zehn Kategorien beschränkt, in denen er die Grundlage aller Wissenschaft sah. Für das ihm zur Verfügung stehende Wissensgebiet erwies sich sein Schema im Zusammenhang mit den vier Ursachen als ausreichend und behielt seine Bedeutung unangefochten über zweitausend Jahre. Doch hatte er die Mathematik vernachlässigt, ja die pythagoräische Lehre war ihm nicht zugänglich.

Die lullische Kunst verfügte über zu wenig Begriffe und Variationsmöglichkeiten, um der Gesamtheit des neuen Wissens gerecht zu werden. Die Entwicklung der Mathematik machte schon Descartes darauf aufmerksam, dass es möglich sein müsste, eine umfassende symbolische Logik zu begründen, in der jedes Zeichen für ein tatsächliches Element der Wirklichkeit und jede denkbare Beziehung für eine tatsächliche Beziehung stünde, also einem Naturgesetz entspräche. Descartes hielt die Erstellung dieses Systems für denkbar und notwendig. Dank seiner würden, wie er sich ausdrückte, die Bauern bald besser über die Wahrheit der Dinge befinden können als heute die Philosophen. Er selbst hatte eine Voraussetzung dafür geschaffen: in der analytischen Geometrie werden stetige Kurven auf unstetige Punkte des Koordinatensystems zurückgeführt. Leibniz und mit ihm Newton ergründeten die entgegengesetzte Methode. Sie entdeckten das Mittel zum Verständnis der kontinuierlichen Bewegung im Infinitesimal: dem Betrag, der so klein ist, dass man ihn unberücksichtigt lassen kann. Mittels seiner führten sie Rechnungen, die aus diskontinuierlichen Schritten bestanden, auf kontinuierliche Bewegungsvorgänge über. Leibniz erhellte diesen Vorgang mit seinem Begriff der petites perceptions: gleichwie Empfindungen eine bestimmte Stärke haben müssen, um wahrgenommen zu werden, gibt es auch einen Schwellenwert in einem Rechnungsvorgang, unterhalb dessen die Beträge nicht ins Gewicht fallen. Hierbei bedeutet der Begriff der Unendlichkeit den qualitativen Sprung: unendlich kleine Bewegung ist gleich Ruhe. Dieser letzte Gedanke bedeutet die Überwindung des logischen Gegensatzes von Raum und Zeit, der dann in der hegelschen Dialektik zur Vollendung kam.

Die Entwicklung dieser Vorstellung führte Leibniz zu der Idee der Vorherrschaft des Kontinuitätsprinzips über die allmählichen Übergänge. Oft zitierte er den Satz natura non facit saltus, die Natur macht keine Sprünge — ein Axiom, das für die Physik bis zur Planck-Einsteinschen Revolution als absolute Wahrheit galt.

Für Leibniz war die konsequente Durchführung der Kontinuität in der Natur die Voraussetzung zur Bestimmung der diskontinuierlichen Wirkursachen, der Monade. Gott sei die allumfassende Substanz. In ihm sind unendlich viele Monaden potentiell enthalten. Doch nicht alle können zugleich in die Wirklichkeit eintreten. Um dies zu erreichen, muss ihre Existenz mit anderen zusammen möglich sein. Hierfür prägte Leibniz den Ausdruck Compossibilitas, Mitmöglichkeit.

Ist eine Monade aus dem Geiste Gottes, aus der Potentialität in die Aktualität getreten, so entwickelt sie sich nach den fünf Reifestufen:

5. Zusammenschau
4. Angemessenheit
3. Deutlichkeit
2. Klarheit
1. Dunkelheit
  • Die Dunkelheit, confusio, bedeutet die vagen und verschwommenen Vorstellungen, wo noch nichts im Gedächtnis haftet; daher ist die Unterscheidung einer von den anderen noch unmöglich.
  • Als zweite Stufe — zu der nach der Vorstellung der Kontinuität eine große Reihe von Zwischenstadien zu durchlaufen sind, denn der Wechsel vollzieht sich unmerklich — wird die cognitio clare, die Klarheit erreicht. In ihr wird die Vorstellung bereits im Gedächtnis behalten, doch nur auf Grund sinnlich wahrgenommener Merkmale wie etwa der Farben und Töne. Der Erkennende ist noch nicht imstande, Einzelheiten zu bestimmen, da er sie sich noch nicht mit deutlichem Bewusstsein vergegenwärtigt hat.
  • Die Vergegenwärtigung geschieht in der dritten, mittleren Stufe der distinctio, wo die Einzelheit und damit auch die Fremdmonade erkannt wird. Leibniz erklärt sie am Bilde eines Münzmeisters; während der Mensch in der zweiten Stufe zwar Goldstücke von Silberstücken unterscheidet, weiß der Münzmeister sofort die metallische Zusammensetzung der Münze.
  • Auch diese Erkenntnis hat ihre Grade. Manche Definitionen sind in sich verständlich, manche nur in Rückführung auf andere. So wird in der vierten Stufe die adaequatio, die begriffliche Angemessenheit erreicht: ein Schatz von Begriffen und Zeichen, der die Wirklichkeit nach Element, Struktur und Kombinationsfähigkeit spiegelt.
  • adaequatio Begriffe mögen sich als definitorisch richtig erweisen, jedoch der Anschauung verschließen. So ist z. B. die mathematische Erkenntnis des Tausendecks adaequat aber blind, weil die entsprechende Vorstellung im Bewusstsein fehlt. Nun gibt es aber Zusammengesetztes und Einfaches; gelänge es, alles Zusammengesetzte auf Einfaches zurückzuführen, das immer deutlich und anschaulich zugleich ist, dann müsste sich die Vorstellung des Zusammenhangs aller Urelemente zu einem letzten und umfassenden Anschauungsbild in der Intuitio klären lassen.

Diesen letzten Schritt, der logisch die Rückbindung zur göttlichen Substanz, genetisch aber die Rückkehr zum Ursymbol des Rades verlangt hätte, wie es die Rosenkreuzer lehrten, vollzog Leibniz nicht. Überhaupt brachte er aus vielerlei Gründen, wobei auch politische Erwägungen mitgespielt haben mögen, sein System nie zu abschließender Darstellung, sondern legte es nur in einzelnen Grundrissen und Briefen dar. Da er es als Grundlage der Wirklichkeit wusste, war es ihm anscheinend kein gedankliches Bedürfnis, über den Ausdruck eine größere Klarheit zu gewinnen.

Mit dem Begriff Monade scheint Leibniz nicht den menschlichen Organismus, sondern sein Wesenszentrum bezeichnen zu wollen. Das Verhältnis der Monaden zueinander legte er in seiner Theorie der prästabilierten Harmonie dar: jede Monade ist als Substanz mathematisch punkthaft; sie spiegelt das Universum, ist aber kausal nicht von anderen abhängig. Dies meinte Leibniz mit dem vielfach missverstandenen Satz, die Monade sei ohne Fenster. Doch wirkt sie im Verein mit anderen gemäß der prästabilierten Harmonie: hierin fasste Leibniz eine kartesische Idee der vom Schöpfer aufgezogenen gleichlaufenden Uhren mit dem geulincxschen Okkasionalismus zusammen, doch im tieferen Sinn des chinesischen Buchs der Wandlungen; die Zeit bildet ein Kontinuum, in dem die Monaden genauso enthalten sind wie im Raum. Die Schwierigkeit des Verständnisses dieser Idee lag nicht im Begriff der Monade, sondern in der scholastischen Verfälschung, welche die Zeit zur Dimension des Zufalls erhoben hatte und den Raum allein mathematisch determinierte; also in der Zerlegung des ursprünglichen pythagoräischen Raum-Zeit-Kontinuums, wobei schon seit Aristoteles der Raum dem Formprinzip, der Aktualität und der Gottheit, und die Zeit der Materie, der Potentialität und dem Verderben zugeordnet wurde.

Aus der prästabilierten Harmonie und den Reifestufen der Monaden ergab sich notwendig als letzte Lehre seine Theodizee, dass nämlich Gott die bestmögliche aller Welten geschaffen habe. Wenn Gott gut ist, so bedeutet er die aufwärtsführende entwicklungsfördernde Substanz. Solch eine Substanz ohne inhärente Schlechtigkeit wird nur diejenigen Monaden in die Wirklichkeit entlassen, welche dank der Umstände und der aus eigener Kraft erreichten Reifestufe mit bereits existierenden Monaden compossibel sind. Daher ist die existente Welt definitionsgemäß die bestmögliche; ihre negativen Aspekte sind nicht Gott zuzuschreiben, sondern ergeben sich aus der relativen Reife der bereits existierenden Monaden, deren Entwicklung nur frei aus der eigenen Bemühung erfolgen kann.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
8. Das rationalistische Denken
© 1998- Schule des Rades
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