Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

8. Das rationalistische Denken

Islam - Indien - China

Bei den Derwischen hatte die Wandlung einen magischen Charakter angenommen: durch Übungen galt es fortan, nicht nur sich dem Wollen Gottes einzuordnen, sondern auch über die Befreiung des Willens die irdische Welt zu beherrschen. Im 16. Jahrhundert entfaltete sich in Persien eine schiitische Dynastie, die sich als Vertreterin der Urreligion betrachtete. Und während in Europa außerhalb der esoterischen Bewegungen der Kampf der Bekenntnisse immer schärfere Formen annahm, mehrten sich in Asien die synkretistischen Versuche, zu einer Vereinigung der Bekenntnisse zu kommen. Zwar wurde das Anliegen Guru Nanaks, 1469-1539, Islam und Hinduismus zu verschmelzen, von den Mogul-Herrschern verhindert, und die Sikhs bildeten fortan eine eigene Sekte. Doch sowohl im Tantrismus als auch in der Bhaktibewegung Ramanandas, 1400-1470, und seines berühmten Schülers Kabir, 1440-1518, bildeten islamische und hinduistische Lehren eine Einheit, die nach einem Standort jenseits der Bekenntnisse strebte und auch die bis dahin streng eingehaltene Grenze zwischen Vaishnavas und Saivas vermischte. Mit Kaiser Akbar im 17. Jahrhundert wurde die Versöhnung der Religionen zum offiziellen Programm. Er veranstaltete das erste Religionsgespräch der Geschichte, in dem sich Mohammedaner, Hindus und Christen zur Diskussion ihrer Glaubensgrundlagen zusammenfanden.

Auch in China, wo die offizielle Herrschaft des scholastischen Konfuzianismus bis zur Revolution Sun Yat-sens 1911 andauern sollte, wurde die Wandlung zum subjektiven Denken durch den Philosophen Wang Yang Ming, 1472-1526, vollzogen. Dieser begann sein Leben als Staatsbeamter und stieg zu hohen Ehren auf. Mit fünfunddreißig Jahren fiel er jedoch einer Intrige des Hofeunuchen zum Opfer. Er wurde zu vierzig Stockhieben und zur Verbannung als Pferdebesorger in eine fremde Provinzstadt verurteilt. Hier in der Abgeschiedenheit fand er eines Nachts seine Erleuchtung, dass die Quelle aller Erkenntnis der Natur in unserem eigenen Inneren liege, und dass das Äußere von unserem Inneren beleuchtet und gestaltet wird, nicht aber das Innere von außen her. Er war so entzückt von dieser ihm aufblitzenden Wahrheit, dass er, wie die Chronik berichtet, zum Staunen seiner Freunde vom Lager auf sprang und unter freudigen Ausrufen im Zimmer umhertanzte.

Fortan studierte er unter diesem neuen Gesichtspunkt die klassischen Schriften und fand überall Anhaltspunkte, dass seine Lehre den Grundintentionen der Weisen des Altertums entspreche. Die Verbannung nahm ein Ende und bald bekam er wieder ein Staatsamt. Die Anzahl seiner Schüler wuchs, und diese begannen sein neues Prinzip auf alle Erkenntniszweige zu übertragen. Sein Leitsatz lautete: Die eigene Natur ist hinreichend.

In einem Gespräch mit einem Schüler erläuterte er diesen Gedanken:

Es gibt nur eine Wirkkraft, und nichts weiter. In Beziehung auf Form und Wesen nennt man sie Himmel. Angesehen als Lenker und Herr heißt sie Gott. Betrachtet als die wirkende Macht heißt sie Schicksal. Als dem Menschen mitgeteilte Anlage heißt sie Natur. Als den Körper beherrschend heißt sie Geist. Als Äußerung geistiger Regungen trägt sie unendlich viele Namen, je nachdem wie sie sich manifestiert, zum Beispiel Pietät als das Verhalten gegen die Eltern, Treue und Ergebenheit als Verhalten gegen den Fürsten. Doch alles ist ein und dieselbe Wirkkraft. Es verhält sich damit gerade so wie mit dem Menschen, der ein Individuum ist, aber doch mit Bezug auf seinen Vater Sohn, mit Bezug auf seinen Sohn Vater heißt und weiter noch anderes in unendlicher Menge. Doch ist es immer derselbe Mensch. Darum muss man alle seine Bemühungen richten auf seine Wirkkraft. Wer die Bedeutung dieses Wortes voll versteht, der vermag auch die Menge der Ausformungen des Li zu begreifen!

Aus diesem Gesichtspunkt gelten die Gesetze nicht mehr objektiv im Sinne der scholastischen Ethik:

In jenem Ruhezustand, wo allein die höchste Bestimmung herrscht, ist kein Unterschied von gut und böse; in dem Zustand aber, wo die Leidenschaften herrschen, da sind auch Gut und Böse vorhanden. Wo keine Erregung der Leidenschaften existiert, da ist weder gut noch böse, und das wird das höchste Gut genannt!

Es ist offensichtlich, dass diese Theorie im Widerspruch zur konfuzianisch-legalistischen Auffassung stehen musste, in der das gemeine Volk durch klar bestimmte Lohn und Strafe, die Edlen und Beamten durch Würde und Schande gelenkt wurden. So konnte sich die neue Philosophie ebensowenig gegen die offizielle Anschauung durchsetzen wie die Tantriker und Bhaktis in Indien gegen die islamische Orthodoxie. Nur in Europa griff die denkerische Bewegung auch auf das Staatswesen über.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
8. Das rationalistische Denken
© 1998- Schule des Rades
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