Schule des Rades

Arnold Keyserling

Vom Eigensinn zum Lebenssinn

2. Klärung der Strategien

Die Vorsokratiker

Wie kann nun dieser Ansatz erreicht werden, aus dem alle Wissenschaft stammt? In den Ideologien ist alles Wissen Teil eines größeren umgreifenden Zusammenhangs, man wird Teil einer Hierarchie, und Grenzüberschreitungen zwischen Wissenschaften sind verpönt; Biologen sehen die Welt anders als Physiker oder Psychologen. Aber alles sind Menschen und das, was das Denken zum Denken macht, ist nicht in den Wissenschaften enthalten: es liegt diesem sowohl historisch als auch systematisch zugrunde.

Die Möglichkeit, das Denken als Schwerpunkt des Bewusstseins zu entfalten, wurde den vorsokratischen Griechen zum Ansatz. Mit dem siebten Jahrhundert waren die Mythen, vor allem durch die Epen Homers und Hesiods, fragwürdig geworden, da so viele verschiedene Ausprägungen nebeneinander bestanden, die alle Gefolgschaft verlangten. Seit dem Beginn der städtischen Demokratie war nun der Akzent von der Tradition auf die persönliche Entscheidung, auf die Überlegung übergegangen. Es stellte sich die Frage, ob man nicht das reine Denken, das Verstehen, von den Meinungen trennen könnte. Es war das berühmte Programm der vorsokratischen Philosophie, aus dem Mythos — der gestalthaften Rede — zum Logos, der nachprüfbaren Aussage zu kommen; das Chaos der Mythen in einen menschengemäßen Kosmos zu verwandeln, und aus der Vielfalt der Meinungen, Doxa, das echte Verstehen und Wissen, Episteme, herauszusieben. Dies geschah durch die folgenden Denker:

  • Thales von Milet erkannte, dass alle Winkel im Halbkreis rechte sind. Es gelang ihm also, die beiden Grundprinzipien von Raum und Zeit, rechter Winkel und Kreis, in Zusammenhang zu bringen und daraus die erste Verallgemeinerung zu bilden; er schuf die Geometrie als Denkdisziplin. Wenn der Winkel sich dem Durchmesser nähert und schließlich diesen erreicht, verwandelt sich 90° plötzlich in 0°.
  • Dies führte zur zweiten Verallgemeinerung der Dialektik, dass alles aus der Wechselwirkung von Nichts und Etwas, Null und Eins, Unendlich und Endlich, Unstetig und Stetig, entsteht, und damit zur Entdeckung der Arithmetik, durch Anaximander.
  • Die Arbeit des dritten Denkers, Anaximenes, blieb axiomatisch: Wenn alles Wissen auf Zahl und Maß abzustimmen ist, dann muss die Qualität sich auf die Quantität zurückführen lassen, das heißt die Quantitäten selbst, die Zahlen, müssen einen qualitativen Charakter haben und für das Sosein verantwortlich sein: quantitative Veränderung bedeutet qualitative Wandlung. Heute wissen wir dank der Atomstruktur, dass es so ist — Kohlenstoff 13 kann in Stickstoff 14 verwandelt werden und damit eine gänzlich andere Qualität annehmen.
  • Wenn aber Zahlen die Grundlage des Denkens bilden, dann müssen diese selbst ebenfalls aus der Erfahrung abzuleiten sein. Das Auge zeigt die Evidenz der Geometrie, das Ohr hört ganzzahlige, arithmetische Verhältnisse. Beide, wie wir heute wissen, lassen die Gesetzlichkeit der longitudinalen und transversalen Wellen des Kontinuums bewusst werden. Um Töne arithmetisch zu begreifen, bedarf es einer ganzen Anzahl von Schritten, die den vierten Pionier, Pythagoras, schließlich zum Entwurf des Systems der Mathematik geführt haben: Das Verständnis von Ton und Licht verlangt die Konstruktion des Kreises der Dimensionen.

Es ist mir in vielen Jahrzehnten gelungen, den ursprünglichen Ansatz des Pythagoras wiederherzustellen bzw. neu zu begründen, da die überlieferten Fragmente keine klare Aussage zulassen, was er nun eigentlich wirklich entdeckt hat. Die Grundlage des Denkens, der achtfältige Kreis der fünf Dimensionen von Raum und Zeit lässt sich aber systematisch aus sich heraus verstehen und wird uns instand setzen, alle Wissenschaften als Strategien zu verstehen und damit dem Subjekt wieder zugänglich zu machen.

Arnold Keyserling
Vom Eigensinn zum Lebenssinn · 1982
Neue Wege der ganzheitlichen Pädagogik
© 1998- Schule des Rades
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