Schule des Rades

Arnold Keyserling

Vom Eigensinn zum Lebenssinn

2. Klärung der Strategien

Wortarten im Enneagramm

Grundlage des Denkens ist Zahl, Maß und Wort. Zahl und Maß haben wir besprochen, so kommen wir nun zur Sprache. Es gibt, abgesehen von den Wissenschaften, etwa 3000 verschiedene Sprachen auf der Erde. Sie alle haben gemeinsam, dass ein Zeichen oder ein Laut für einen wiederholbaren Gedanken steht, der aus dem Gedächtnis zurückgerufen werden kann.

Der Philosoph Frege hat den Unterschied zwischen Sinn und Bedeutung aufgezeigt. Sinn ist der Zusammenhang des Satzes, und er ist immer mathematisch; Bedeutung dagegen kommt im Satz hinzu.

Die Aussage: 3 + 4 = 7, eine Gleichung, hat nur Sinn;
der Satz: 3 Stühle und 4 Tische sind 7 Möbelstücke hat Sinn und Bedeutung.

So wird der Sinn durch das istgleich der Gleichung geschaffen, und die Bedeutung durch die Wortarten, die Kategorien der Sprache.

Nur wenn ein Satz in eine prädikative Aussage verwandelt werden kann, dann ist er logisch verifizierbar. Das ist aber bei jedem möglich. Die Aussage: Mein Vater starb gestern — wird logifizierbar in folgender Weise: Der gestrige Tod meines Vaters ist eine Tatsache. Damit ist der Jahrtausende alte Bruch zwischen Logik und Mathematik überwunden, und es stellt sich die Frage, wie man die Sprache als Fähigkeit des Denkens aus der Tradition, der historischen oder landschaftlichen Gebundenheit herauslösen kann. Dies ermöglicht uns die Struktur des Gehirns. Gliedern wir die Sprachen nach den Bewusstseinszonen, so ergibt sich folgende Ordnung:


Potentialität
Grammatik
Wirklichkeit Hinweis Sprecher Etymologie
rechts
Möglichkeit

Kommunikation
Information
Reflexion
hinten
Aktualität

Ein Wort kann nach Jakobson aus 44, laut indischer Tradition aus 54 Lauten gebildet werden; ein Zeichen ist bei fünf Strichelementen in beliebiger Kombination verständlich, wie die Chinesen gezeigt haben. Hinweis bedeutet Entsprechung von Laut, Zeichen, Gebärde und einer Vorstellung, einem Gedanken. Bleistift, pencil, matita, crayon sind ohne Schwierigkeit in andere Sprachen zu übersetzen. So ist der erste Ausdruck der Sprache die Wirklichkeitsentsprechung, wobei je nach Feinheit der Unterscheidung die verschiedensten Merkmale betrachtet werden können, wenn sie für das betreffende Volk wichtig sind; ein Kamel hat bei den Arabern etwa hundert verschiedene Namen, je nach dem Zusammenhang, in dem es auftritt. Somit ist der Hinweis die Sprachwelt des Empfindens.

Im Gegensatz zum Hinweis stehen die Wurzelverwandtschaften der Etymologie, die bevorzugte Verbindungen in der Imagination darstellen. So der Doppelsinn von aufheben — bewahren und vernichten auf deutsch, der Zusammenhang Wahrheit, Wahrnehmen, im Unterschied zu lateinisch veritas-verificare, oder griechisch aletheia, das, was dem Vergessen entzogen ist, Vidija auf Sanskrit, was unmittelbar gesehen wurde mit den Augen des Unbewussten. Wer nur seine eigene Sprache kennt, bleibt fast immer in deren Etymologie gefangen; erst durch Kenntnis einer zweiten wird der dichterische, gefühlsmäßige Unterschied klar, der sonst unterbewusst bleibt.

Man kann nicht gleichzeitig auf die etymologische und auf die Hinweisbedeutung achten. Wenn ich über den Vergleich zwischen penser, wägen und denken, dingbezogen nachdenke, dann betrachte ich nicht den Wirklichkeitsbezug. Manche Sprachen haben eine Kultur der Wurzelverwandtschaften, wie arabisch oder hebräisch; dort noch verstärkt durch die numerologische Kabbala, die eine eigene Weltanschauung schafft.

Der dritte Aspekt der Sprache ist die Information, die durch den Satz, die Syntax vermittelt wird. Diese ist immer eine Forderung, einen Gedanken nachzuvollziehen; ob ich nun sage bring mir das Buch oder das Buch liegt auf dem Tisch, in beiden Fällen ist es eine Forderung, einmal zum Handeln, das zweite Mal zur Schaffung eines Bildes.

Jeder geprägte Satz wird Teil des Gedächtnisses, sobald er verstanden wurde. Doch auf viele Sätze erwarte ich gar keine Antwort — wie geht es Ihnen? oder Gespräche über das Wetter, sind ein Ritual, das von Land zu Land, wie schon gesagt, verschieden ist.

Wenn man die Sprachgewohnheiten nicht kennt, die man hat, so verfällt man in ihr Gefängnis. Die Neurolinguistik hat gezeigt, wie sehr Sprachgewohnheiten Verhaltensmechanismen oder negative Spiele im Sinn der Transaktionsanalyse erzeugen können.

Jedes gesprochene Wort wird gleichzeitig Wissen und Verhaltensschema. Ein Satz kann sinnvoll sein oder auch nicht, dies ist logisch leicht festzustellen. Sinnvoll ist er dann, wenn er der Grammatik gemäß gebildet ist, also die Wortarten und Satzteile von beiden Gesprächspartnern gleichgesinnt verwendet werden. Doch hierzu muss die grammatikalische Struktur aus den traditionellen Sprachen gelöst und sowohl mathematisch als auch neurolinguistisch verstanden werden.

Der Ansatz hierzu findet sich in der islamischen Tradition. Er wurde das erste Mal durch Gurdjieff in Europa bekannt. Im Christentum war das Evangelium ein Bericht über das Leben und Wirken Christi. Es war daher möglich, Dogmen aufzustellen, wie die Worte zu interpretieren seien. Der Prophet Mohammed erfuhr dagegen den Koran als Dichtung, als unmittelbare Inspiration; es konnte ihm also kein Dogma zugrundegelegt werden. Daher hielten die islamischen Philosophen — vor allem die lauteren Brüder von Basra um 800 n. Chr. — Ausschau in einem anderen Erklärungsprinzip, und sie fanden es in den neun Ziffern und der Null als jenen pythagoräischen Zahlen, deren Begriff keine Ausdehnung verlangt. In den Worten Freges: 3 als natürliche Zahl ist die Klasse aller Dinge, die drei Bestandteile aufweisen.

Betrachtet man nun die neun Ziffern vom Denken her, also der Division, so erhält man die Figur des Enneagramms, afghanisch No-Kunja, welche den Ursprung und die Chiffre allen Wissens darstellen soll. Es besteht aus einem Kreis, als der Null, neun Ziffern und zwei Strichfiguren, die dimensional in die Unendlichkeit fuhren.

E n n e a g r a m m

Dividiert man eine Ziffer durch 9, so erhält man diese selbst als unendlichen Bruch:

1 : 9 = 0,11111111…
2 : 9 = 0,22222222…
3 : 9 = 0,33333333…

Dividiert man durch 3 oder 6, so erhält man diese Ziffern als Bruch:

1 : 3 = 0,33333333…
2 : 3 = 0,66666666…
1 : 6 = 0,16666666…
2 : 6 = 0,33333333…

Dividiert man die Ziffern durch 7, erhält man einen periodischen Bruch, der die anderen Ziffern miteinander verbindet:

1 : 7 = 0,142857 142857…
2 : 7 = 0,285714 285714…
usw.

In Ouspenskys Buch Suche nach dem Wunderbaren, das ich übersetzte, steht, dass das Enneagramm die Grundfigur der Grammatik sei. Ich versuchte diese Behauptung zu verifizieren und fand ihre Richtigkeit heraus, bin mir aber trotz aller Forschungen nicht im Klaren, ob die folgenden Ausführungen schon einmal geschaffen wurden oder ob ich sie selbst entdeckt habe. Wie dem auch sei, Tatsache ist, dass die neun Ziffern als Urbild aller Qualität für das Denken die Grundlage der grammatikalischen Wortarten sind, die sich durch die Anzahl der Kategorien unterscheiden, so dass tatsächlich hier Qualität gleich Quantität ist:

  1. Das Wort, syntaktisch Bindewort, Konjunktion. ist einfältig.
  2. Das Hauptwort, Substantiv, logisches Subjekt in der Syntax, hat Singular und Plural, ist zweifältig.
  3. Das Zeitwort, syntaktisch Prädikat, ist dreifältig gemäß den Hilfszeitworten Sein, Haben, Werden, syntaktisch intransitiv, transitiv und modal (ich gehe — esse den Kuchen — möchte spazieren).
  4. Die Deklination, die Verhältnisworte, zeigen vier Beziehungen an:
    • zum Subjekt, Nominativ,
    • zum Objekt, Akkusativ,
    • die Beziehung zwischen beiden, Dativ
    • und die Zugehörigkeit zu anderen Zusammenhängen, Genitiv.

    Es ist also vierfältig.

  5. Das Eigenschaftswort, Adjektiv, syntaktisch Attribut, ist fünffältig. Positiv, Komparativ, Superlativ, die drei Steigerungsformen, dazu bestimmte und unbestimmte Zahlwörter bestimmen die Erscheinungen als solche.
  6. Die Personen des Zeitwortes ich, du, er — und die drei grammatikalischen Geschlechter männlich, weiblich, sächlich — Yang-Yin, Tao — bestimmen syntaktisch das grammatikalische Subjekt, welches also immer personal im Sprechen ist, und sechsfältig sich äußert.
  7. Das Fürwort steht für das logische Subjekt und ersetzt nicht nur den Namen, wie der lateinische Ausdruck Pronomen darstellt, sondern alle anderen Wortarten:
    1. hinweisend,
    2. bestimmend,
    3. unbestimmt,
    4. bezüglich,
    5. besitzanzeigend,
    6. persönlich.
    7. Nur als fragend —
      wer oder was, ist es gleichsam in seinem eigenen Charakter.
  8. Das Umstandswort ist achtfältig und bestimmt nicht nur das Verb, wie der lateinische Ausdruck Adverb meint, sondern alle Umstände; und wird nur nach vorhergehender Frage bewusst:
    1. Grund (weil) auf Frage: warum?
    2. Ort (hier) auf Frage: wo?
    3. Zeit (jetzt) auf Frage: wann?
    4. Häufigkeit (oft) auf Frage: wie häufig?
    5. Art und Weise (schön) auf Frage: wie?
    6. Grad (besonders) auf Frage: wie sehr?
    7. Beschränkung (wenig) auf Frage: wie viel?
    8. Modal (vielleicht) auf Frage: ist es so?
  9. Die letzte, neunte Wortart sind die Zeitwortformen.

    3 Zeiten:
    Gegenwart
    Vergangenheit
    Zukunft
    3 Modi:
    Wirklichkeit
    Möglichkeit
    Bedingung
    3 Formen:
    Passiv
    Aktiv
    Infinitiv

    Die Zeitwortarten bilden das Satzgefüge, sie müssen immer da sein, während die sechs Raumwortarten beliebig zu ergänzen sind. Ferner ist in jeder Aussage eine Zeitwortart, von drei, zwei Komponenten von sechs, eine Person und ein Geschlecht, und drei von Neun: eine Zeit, ein Modus und eine Form.

Jede Grammatik ist mindestens auf diesen 45 Komponenten aufgebaut, wenn auch manchmal zusätzliche Formen geschaffen wurden, wie der fünfte und sechste Deklinationsfall in lateinisch oder Plusquamperfekt und 2. Futur.

In der Grammatik des Enneagramms haben wir nun den Schlüssel, um den Ideologien den Garaus zu machen, und das Wissen in Strategie zu verwandeln. Man kann nicht gleichzeitig auf Etymologie und Hinweis achten; ebensowenig auf grammatikalische Struktur und Inhalt der Information. Da aber diese nicht nur Wissen, sondern auch Verhalten bedeutet, ergibt sich der Schluss, dass die neun Komponenten nicht nur Träger des Sinnes des Satzes, sondern auch des Verhaltens, des Lebens sein müssen.

Arnold Keyserling
Vom Eigensinn zum Lebenssinn · 1982
Neue Wege der ganzheitlichen Pädagogik
© 1998- Schule des Rades
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