Schule des Rades

Arnold Keyserling

Vom Eigensinn zum Lebenssinn

3. Integration der Motive

Kosmisches Bewusstsein

Die Problematik der Affektivität ist erst durch die Psychologie überhaupt zugänglich geworden. Diese ist eine junge Wissenschaft. Jahrtausendelang wurde das menschliche Verhalten durch eine materiale Ethik gelenkt — die verschiedenen offenbarten religiösen Verhaltensweisen, die protestantische, islamische, katholische, ja bürgerliche Standesethik. Erst um die Mitte des vorigen Jahrhunderts wurde diese durch die beobachtende Psychologie ersetzt, die sich im Bild der experimentellen Naturwissenschaft verstand. Man ging daran, zu betrachten, wie sich der Mensch tatsächlich im Leben und in seinen Affekten verhält, ohne im vornherein zu dekretieren, wie er es sollte; hierbei war vor allem die vergleichende tierische Verhaltensforschung maßgebend, da sich herausstellte, wieviele Reaktionen der Mensch mit dem Tier gemeinsam hat.

Bis an das Ende des 19. Jahrhunderts wurde die traditionelle Ethik nicht in Frage gestellt, und so bestanden die verschiedenen Lebenssysteme nebeneinander. Der gleichzeitige Ansatz der Ethnologie und kulturellen Anthropologie, der vergleichenden Religionswissenschaft und Mythenforschung begann nun aufzuzeigen, dass es eine Unzahl von metaphysischen Voraussetzungen gibt, die neben der politisch erfolgreichen christlichen in anderen Gebieten bestanden haben, und dass es fast keine denkmögliche Welterklärung gibt, die nicht irgendein Stamm oder Volk vertreten hat. Der Erfolg der christlichen Weltanschauung ist nicht auf die Tiefe des jüdischen Schöpfungsberichtes zurückzuführen, sondern auf die wirklichkeitsgemäßere Einstellung der technisch orientierten europäischen Völker. So begann William James um die Jahrhundertwende die religiösen Vorstellungen in seinem Buch The Varieties of Religious Experience zu untersuchen und kam dabei zu dem soziologischen Schluss, es hätte keinen Sinn, Kosmogonien oder Eschatologien, Herkunft- und Zielvorstellungen einer objektiven Kritik zu unterziehen, weil sie nicht nachprüfbar sind. Was aber sehr wohl sich feststellen ließe, wäre die Wirkung dieser Glaubensvorstellungen, ob sie den Menschen glücklich macht oder nicht. Er nannte diesen Ansatz the pragmatic test: eine Religion oder Ethik, die den Menschen besser macht, sei zu begrüßen, eine sein Dasein verschlechternde zu verneinen.

Der äußere Anlass für diese Bemühung war die Erkenntnis seines Freundes Maurice Bucke in Kanada, dass die meisten Menschen seines Kreises (der eng befreundet mit den Bostoner Transzendentalisten, Emerson, Thoreau, Whitman usw. war), in sogenannten peak experiences kosmisches Bewusstsein, das heißt einen anderen Gemütszustand erlebt hatten. Dies schien ihrem Leben Sinn zu geben, ließ sich aber nicht in das Gehäuse des materialistischen Wissenschaftsglaubens oder des formalistischen Kirchenglaubens einordnen. Früher hätten solche Menschen erfolgreich Sekten gegründet. Daher müssten diese Erlebnisse eine tiefere Bedeutung haben und man sollte erkunden, welche von ihnen — hier empiristisch gedacht — der größten Anzahl von Menschen Sinn geben könnten. Man denke an das Postulat des Logikers Peirce, das die meisten amerikanischen Philosophen für sich als bindend erachteten: Wahrheit ist jene Meinung, die von der größten Anzahl unbeteiligter Prüfer als richtig angenommen wurde.

Aus diesem Ansatz entstand nun die Vorstellung einer normativen Psychologie, welche die Ethik wissenschaftlich ersetzen könnte: Der Behaviorismus mit Watson und McDougall, der auch heute noch die meisten Universitäten beherrscht, und der eng mit der empirischen Psychologie und der tierischen Verhaltensforschung zusammenarbeitet. Es gibt optimale Bedingungen für das menschliche Aufwachsen; man könnte diese — ein solcher Ansatz war ethnologisch nur in Amerika mit seinem Glauben an das Primat des Individuums und seiner Ablehnung der Traditionen denkbar — sowohl aus der Forschung als auch aus der vergleichenden Kulturbetrachtung herauslesen und als neue Erziehung verwirklichen.

So würde eine neue Generation von Menschen entstehen, die nicht mehr traditionell aufwuchsen, sondern nach den besten augenblicklichen Erkenntnissen, die nach der Vorstellung der Pioniere imstande sein müssten, jedem Menschen den Zugang zur Affektivität und Kreativität zu ermöglichen.

Viele Erkenntnisse wurden gewonnen, die tatsächlich das Leben auf eine ganz andere Basis erhoben, so dass man eine Reihe sexueller und anderer Traumas erleichtern könnte. Wie beim Tier gibt es auch beim Menschen sogenannte offene Programme, die sich nur zu bestimmten Zeitpunkten entfalten können, wie etwa der Vogel erst von einem bestimmten Zeitpunkt an selbst Körner aufpicken kann und vorher gefüttert werden muss, so dass er, wenn er zu früh aus dem Nest fällt, inmitten von Körnern verhungert.

Solche Programme sind: Das Erlernen der Sprache von menschlichen Eltern vor dem zweiten Lebensjahr. Die sogenannten Wolfskinder, die mit Tieren aufwuchsen, haben es nie zum Sprechen gebracht; oder die berühmten Streicheleinheiten, die ein Kleinkind erleben muss; wenn es Körperberührung nur als väterliche Strafe erlebt, wird es meistens später zur Gewalttätigkeit neigen — und viele andere derartige Kriterien.

Mitte der Vierzigerjahre gab es eine ganze Generation von Menschen, die innerhalb dieser neuen Erziehungsvorstellungen aufgewachsen waren, doch stellte sich heraus, dass trotzdem ein großer Teil von ihnen nicht zu ihrer Affektivität und Kreativität durchstieß — zumal viele Psychologen weiterhin patriarchalisch-direktiv eingestellt blieben und das Ziel in einer Anpassung an die überlieferte demokratische Gesellschaft sahen, die nicht weniger der Wurzeln verlustig ist als die traditionell-europäische. Zu diesem Zeitpunkt kam nun der Exodus der europäischen Psychoanalytiker nach Amerika und somit die zweite Phase der psychologischen Entwicklung: Die analytische Psychologie, wobei weniger die Theorien der Schulen von Freud, Adler, Jung im Vordergrund standen als vielmehr ihre pragmatische Bedeutung.

Den Ansatz bildete die Entdeckung des mentalen Alters im Unterschied zum physiologischen durch Margaret Mead. Als diese in Ozeanien auf eine Insel kam, auf der protestantische Missionare acht Jahre früher die Todeszeremonie unterbunden hatten — ein Kind wurde mit 12 Jahren in ein Gemeinschaftshaus gebracht, wo es drei Tage blieb. Wenn es herauskam, war es Stammesmitglied und für die Eltern als Kind gestorben — war keiner der 20jährigen mental älter als 12 Jahre. So gibt es also Einschnitte, die eine Entwicklung abstoppen können und die geistig den offenen Programmen vergleichbar sind. Durch Aufdeckung der Primärerlebnisse in der Psychoanalyse, über das therapeutische Gespräch, gelang es mit verschiedenen Techniken — der sexuellen Bezogenheit bei Freud, der Machtbezogenheit bei Adler oder der Erneuerungsbezogenheit und Individuation bei Jung — Menschen zu ihrer Affektivität zu bringen und in ihre Kreativität, den Lebenssinn, zu führen.

Arnold Keyserling
Vom Eigensinn zum Lebenssinn · 1982
Neue Wege der ganzheitlichen Pädagogik
© 1998- Schule des Rades
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