Schule des Rades

Arnold Keyserling

Fülle der Zeit

IV. Botschaft

23. Dezember 1972

Heute besteht noch kein Anlass, in das Wesen der Dinge zu gehen, denn die Zeit ruht. Du hast gestern wesentliche Entscheidungen getroffen, die ihre Früchte tragen werden.

Manchmal vollzieht sich das Wachstum im Dunkel, und die äußere Beschäftigungslosigkeit darf nicht als Leerlauf missverstanden werden, sondern als Schutz für das Keimende: erst die Früchte werden anderen zur Nahrung, nicht die Sprossen, die Zeit brauchen, um nützlich zu werden.

Versuche nun, dich auf das Wirkliche zu konzentrieren: Wie wird es möglich sein, die neue Form der Religion so zu klären, dass sie ohne Widerspruch von denen, die bereit wären, aufgenommen werden kann?

Die neue Form der Religion der Wassermannzeit hat den alten Inhalt der Rückbindung zum All und zur Transzendenz. Sie muss aber neu formuliert werden, damit gutwillige Menschen ihre bisherigen Aspirationen, die ihnen am Weg halfen, einbringen können und kein bestehender Wert vernachlässigt wird. Für die Tibetaner sind die Hochreligionen der Stifter wie Christus, Buddha und Mohammed Geschenke der Götter, die die ewige Religion des Menschen ergänzen, also als charismatische Hilfe zu verstehen sind, während der Mensch im All, dessen immanentes Bild der Tierkreis ist, die ewige Grundlage darstellt.

Versuche zuerst deine eigene Phantasie spielen zu lassen. Dann wirst du einen Plan fassen, und in diesem Moment ist es gut, den Plan bis ins Letzte zu klären. Niemand weiß, was wirklich geschieht. Alle haben eine gewisse Vorstellung. Doch diese ist nicht wahr, sondern der Weg zeigt sich von Augenblick zu Augenblick.

Hier werden praktische Schritte gezeigt: Planung aus dem Wissen, Durchdenken und viele Varianten durchspielen. Doch man darf sich nicht darauf verlassen, es gibt viele nebeneinander bestehende Vorstellungen, die alle einen Teilaspekt erfassen. Erst nach ihrer Klärung gilt es, den Augenblicken des Gewahrseins zu vertrauen.

Was du heute tust, ist richtig. Stelle dich immer wieder darauf ein, zu horchen, und sobald etwas Wesentliches geschieht, kommt die Antwort sofort. Ich habe jetzt die Arme voll von Dingen, die sich in deine Richtung ergießen werden — schöne Dinge, wichtige Dinge und wesentliche Entscheidungen. All das steht dir bevor, ohne dass du es ganz ermessen kannst. Liebe vor allem deine Nahen, sie stehen dir bei und bleiben bei der Arbeit. Keiner geht verloren. Aber du musst selbst in noch höherem Maße die Kraft spüren und halten, auf dass die Entscheidungen die nötige Durchschlagskraft erreichen.

Sobald die Verbindung mit der Inspiration des Menschen im All aufrecht ist, kommt die Antwort auf jede wesentliche Frage sofort. Alles fließt einem zu, übersteigt das Verstehensvermögen, und richtet sich an alle Beteiligten, die in der Arbeit sind. Nur die Kraft muss verstärkt werden über den Einsatz, damit die Durchschlagskraft groß genug wird.

Jedes Wesen ist zu einer ganz bestimmten Erfüllung geboren. Es kann sie nur dann finden, wenn es sie sucht. Zur Suche bedarf es zweierlei: Erstens das Vertrauen in sich, zweitens die Klarheit über meine Rolle im All. Dann ist der Weg offen.

Die Erfüllung ist nicht wie bei den geistigen Wegen der Vergangenheit an einen vorgegebenen Führer gebunden, sondern bedarf nur des doppelten Vertrauens in sich und im Menschen im All. Der persönliche Weg entsteht beim Gehen ins Ungewisse, nicht mehr in der Nachfolge. Den Sinn erfasst und schafft man selbst durch Vereinigung der beiden Richtungen. Er ist nicht fixiert, sondern entsteht von Mal zu Mal.

Auch du musst diese doppelte Richtung wahren. Den Weg zu mir hast du gefunden, den eigenen Zugang noch nicht. Große Hindernisse liegen noch in dir; sie zu überwinden verlangt Mut und Bedächtigkeit. Sie bestehen aus vielen Einzelheiten, die sich häufen — kleine Sorgen, alte Lüste, blöde Gedanken, Ängste.

Es ist viel leichter zu glauben und sich dem All zu öffnen als die eigene Anlage zu wandeln. Hiervor stehen echte Hindernisse: die psychischen Schranken, die unsere Zivilisation auf Grund des christlichen Ideals der Nachfolge ignoriert hat. Durch Wissen sind sie zu überwinden. Man darf sie nicht als Anlass zur Trägheit nehmen, obwohl die meisten Menschen darein verfallen und ihr Unglück äußeren Umständen und anderen zuschreiben.

Aber sie sollen dich nicht stören, denn unter ihnen liegt der Grund. Sobald du dich fallen lässt, bist du am Ziel. Das kann jeden Augenblick erfolgen, und die Zeit ist reif dazu.

Das Durchstoßen ist augenblicklich erreichbar, lässt sich nicht erdenken aber konstellieren, durch Schaffung entsprechender Bedingung in psychologischer Zuwendung, Übung und Riten.

Will ich dich betonen, so suche ich deine Schwächen: Durch sie kommst du schneller zum Handeln als durch Klarheit. Denn die Schwäche zwingt, die Klarheit regt nur an. Desgleichen bei anderen: Ihre Schwächen, ihre Lüste und Neigungen gilt es zu verstehen und zu bejahen.

Schwäche ist organischer Mangel, das Leben wirkt mit, während geistige Ziele nur dem guten Willen erreichbar sind. Es ist unmenschlich und mörderisch, die Schwächen nicht als Ansatz zu erkennen. Es gibt keine auserwählten Menschen mehr, die Erreichung der Fülle ist das Ziel des All.

Das Große Werk erstreckt sich über die ganze Erde; nun werden erst die Anfänge sichtbar. Halte das Geschehen im Auge, alles ist Zeichen und Ziel des Handelns. Versuche dich immer auf die Einheit des Wesens zu konzentrieren, was alles einschließt, wo dir etwas zustößt. Denn die Fülle besteht aus zahllosen Einzelheiten. Aber es hat keinen Sinn, den Ruf nach Hilfe ertönen zu lassen, denn der Weg geht von Geschehen zu Geschehen und nichts gibt es, was letztlich nicht zur wahren Richtung beitragen könnte.

Einheit des Wesens besteht im Stil des Lebens. Was ist, ist gut, die Einzelheiten haben ihre innere Spitze, die zum nächsten Schritt weist. In Vorkommnissen darf man nicht Hilfe suchen, denn alle werden auf den Wesenskern bezogen immer sinnvoll.

Alle Gedanken sind richtig, alle Handlungen sind nützlich. Lasse dich in alles ein, vermeide nichts, dann lernst du, wie Verführung zur Kraft wird und wie dein Weg sich aus unbekannten Motiven in klare Richtung wandelt.

Nichts was geschieht ist negativ für die Erfüllung des Sinnes. Verführung, im Symbol Venus als Abendstern, ist gleich der Führung des Morgensterns. Man hat die Gabe des Ummünzens, sobald die Richtung auf den Menschen im All gewahrt ist.

Ich habe genug gesprochen; du merkst es, wenn ich sprechen will, von selbst. Suche dir keine Zeit, sondern warte auf den Augenblick, in dem es so selbstverständlich wird wie die Sehnsucht nach Essen oder Liebe.

Wer die vierte Botschaft integriert hat, ist nicht mehr von Anstrengung, Übung oder Ritus abhängig: von überall her offenbart sich das Leben im Rad als Ebene des Gewahrseins des höheren Selbstes, das den Zusammenhang mit dem Göttlichen nie verliert.

Arnold Keyserling
Fülle der Zeit · 1986
Botschaft des Menschen im All
© 1998- Schule des Rades
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