Schule des Rades

Arnold Keyserling

Das große Werk der göttlichen Hände

Voraussetzung

Vision des Rades

Am 4. Juni 1943 erlebte ich in einer wachen Vision in einem Café in Brüssel, wie ich auf einer drehenden Scheibe in die Mitte trat und diese damit anhielt. Psychisch bedeutete dieser Vorfall eine entscheidende Erfahrung: von diesem Augenblick an habe ich nie mehr am Sinn gezweifelt und betrachtete das praktische Leben als die Suche nach den besten Strategien, um nicht unterzugehen. In den folgenden Jahren begann ich beim Studium der Werke C. G. Jungs — ich arbeitete damals als Soldat bei einer Rundfunküberwachung, hörte viele Sender ab und hatte dabei genug Zeit zum Lesen, wie auch jenes Erlebnis bei der Lektüre eines Buches von Bergson und gleichzeitiger Spiegelschau geschah — zu verstehen, dass das Rad das Symbol der Individuation, der Verlagerung des Bewusstseinsschwerpunktes von der Peripherie in die Mitte bedeutet. Während Jung es aber mit dem Auftauchen des Symbols im Traum genug sein ließ, war für mich die Erkenntnis des Rades ein philosophisches Anliegen, ich glaubte, dass es das gesamte mögliche Wissen umfassen kann.

Ich befand mich damit in einer mir damals nicht bekannten Tradition der hermetischen Philosophie, die im Hochmittelalter in der Ars Magna des katalanischen Philosophen Ramon Lull ihren Niederschlag gefunden hatte.

Eine Woche nach diesem Ereignis, bei einem Besuch in Antwerpen, kam mir die Idee, einem Menschen aus der Hand zu lesen. Ich hatte rudimentäre Kenntnisse von einer alten Baltin, Eleonore von Brasch, gelernt und wusste daher einige Ausdrücke wie Kopflinie, Herzlinie, Lebenslinie und Schicksalslinie, ebenso die traditionelle Bedeutung der Berge und Finger. Zu meinem Erstaunen war ich mit diesen geringen Kenntnissen imstande, Menschen ihre Lage und ihr Schicksal ziemlich genau zu beschreiben. Doch bald tauchte die Frage auf: kommt diese Fähigkeit daher, dass ich unmittelbar mit dem Unbewussten des anderen in Kommunion trete, seine Gedanken gleichsam lese, oder ist wirklich in der Chiromantik ein Wissen verschlüsselt?

Nach dem Krieg wurde mein Vater nach Österreich eingebürgert, um seine Schule der Weisheit, die in Deutschland verboten worden war, neu zu begründen. Der Eröffnungskongreß sollte am 26. Mai 1946 beginnen, und ich bereitete diesen vor. Am 26. April starb mein Vater. So musste ich die Schule der Weisheit übernehmen und leiten — wir hatten zu diesem Zweck ein Haus zur Verfügung bekommen — und begann mich in das Werk meines Vaters zu vertiefen, um dessen Grundstruktur zu erkennen.

Er hieß sein Werk Sinnesphilosophie. Nachdem ich alle seine Bücher wieder einmal durchgelesen hatte, kam ich zu der Erkenntnis, dass ihm seine eigene Grundlage unbewusst war. Jung hatte sich geweigert, ihn zu analysieren, weil er glaubte, im Werk werde die eigentliche Individuation stattfinden und nicht in einer Therapie. So begann ich mich zu fragen, was nun Sinn eigentlich sei und was subjektive Sinnfindung von Unsinn unterscheidet. Ich nahm daher die Hände — bis dahin das einzige Mittel der Kommunion, das mir zugänglich war — als strukturellen Ausgangspunkt. Meine Beratungen hatten viel Erfolg, doch ich war letztlich unbefriedigt, weil mich immer weiter das Problem der animistischen Gedankenübertragung bedrückte: Wie viel lässt sich tatsächlich aus den Linien und Zeichen der Hand erschließen und was ist bloße Intuition?

  • Ich begann als erstes die Finger den Sinnen gleichzusetzen, da mir die traditionelle Zuordnung unbegründet erschien. Danach ergab sich die Notwendigkeit, zu den aufnehmenden Sinnen tätige anzunehmen.
  • Der nächste Schritt war, die Sinne durch das sprachliche Denken zu ergänzen,
  • und drittens dieses im Fühlen zu vertiefen, was seinen Ausdruck in den drei Fingergliedern finden sollte, während das Wollen für mich auf dem Unterschied von linker und rechter Hand als Spiegel von Möglichkeit und Wirklichkeit beruhte.

So entstand 1951 mein erstes Buch Urstimmung des Gemüts, worin ich alle mir notwendig erscheinenden Begriffe in einer zahlenmäßigen Ordnung in einer recht komplizierten Figur veranschaulichte, deren Teil die Hände bildeten.

Durch die Beschäftigung mit der möglichen Bedeutung der Zahlen selbst in dieser Begriffstafel verrannte ich mich und hatte nun das Glück, in Paris Gurdjieff kennen zu lernen. Die Begegnung gab den nächsten Anstoß. Bei der Übersetzung des Buches von Ouspensky Auf der Suche nach dem Wunderbaren entdeckte ich, dass er die Grundstruktur der Grammatik auf die Zahlen des Enneagramm zurückführte und ich merkte bald, dass seine Annahme richtig war.

Die weitere Entwicklung bis zur Fertigstellung der Konstruktion des Rades und der endgültigen Bestimmung des Gesetzes der Sinne habe ich anderweitig beschrieben.

Doch diese Arbeit brachte mich weg von den Händen und ihrer Bedeutung. Erst im heurigen Jahr begann ich mich wieder damit zu beschäftigen und fand erneut Zugang zum damaligen Wissen. Ich will es aber nicht historisch schildern, sondern sofort systemisch, wie es sich im Zusammenhang mit dem Rad darstellt.

Die Struktur des Rades ist:

  • für das Sehen das innere Auge,
  • für das Hören das innere Ohr,
  • für das Schmecken der Zugang zum Lichtleib,
  • für das Riechen der Zugang zum Wortleib
  • und für das Tasten das Erleben und Schaffen des kinästhetischen Körpers, also das sinnliche Gewahrsein.

Die Sinne werden seit Platon im Gegensatz zur Geistigkeit betrachtet; tatsächlich ist der himmlische Mensch genauso sinnlich wie der irdische. Unser Bewusstsein ist im bürgerlichen Weltbild zu beschränkt; es reicht viel weiter als wir glauben. Der Sinn der Sinne wäre in Gurdjieff’scher Sprache die Schaffung des kosmischen Individuums, oder religiös die Umstülpung des Wesens, indem der Zeuge, der für gewöhnlich hinter dem Wollen im Tiefschlaf west, zum Täter wird.

Die Linien der Hand sind nicht physiologisch begründet, sondern spiegeln bevorzugte Assoziations­bahnen der gegensätzlichen Großhirnhemisphäre — sie sind veränderlich. Manche sind seit Geburt als Erwartung vorgezeichnet, andere entstehen oder verschwinden im Laufe des Daseins.

Als das Bein meines Bruders amputiert wurde, verschwand in der gleichen Nacht seine Schicksalslinie aus der rechten Hand.

Während das Horoskop den Raster der Anlage zwischen Geburt und letztem Atemzug darstellt und man die Erreichnisse eines Lebens nicht aus dem Schema erkennen kann wenn es einem einfällt, tritt wieder die paranormale Wahrnehmung auf — eröffnet die Hand in ihren Linien und Zeichen den tatsächlichen Zustand des Menschen auf dem Weg zur Befreiung, zum wahren Wissen. Daher kann uns die Hand auch dazu dienen, die Teilhabe des Menschen an der Gesamtheit des Kosmos zu veranschaulichen — die sokratische Methexis.

Das Gewahrsein befindet sich im Vorderhirn des Neocortex als eine Schwingung von 1 bis 2 Hertz: diese alterniert zwischen Beobachtung und Erinnerung, Linie und Kreis. In der Beobachtung ist das Gewahrsein mehr auf die Mitwelt gerichtet; im Erinnern, der Gedächtnisbildung mit 3 Hertz, der sogenannten Bereitschaftswelle, taucht ein Motiv oder eine Intention vor dem Gewahrsein auf. Diese können nun aktualisiert werden oder auch nicht. Geschieht ersteres, so wandelt sich der Gehirnstrom von 3 auf 7 Hertz und die Vorstellung wird zur Handlung.

Das menschliche Wesen kann im Sinne Schopenhauers als Wille und Vorstellung bezeichnet werden. Durch den Schritt von 3 auf 7 Hertz wechselt der Gehirnstrom von Delta zu Theta, vom Tiefschlaf zur Vision, die verwirklicht werden kann. Der Weg geht dann noch weiter über den REM-Traum bis zum Wachen und zur Gestaltwahrnehmung bei 32 Hertz, wie ich es in meinem Buch Das Nichts im Etwas dargestellt habe. Entscheidend ist, dass das Subjekt nur im Ja und Nein zur Vorstellungsschwingung des kinästhetischen Körpers aufscheint, also in der berühmten Inhibition von Matthias Alexander: man sollte erst nein und dann ja sagen; sonst wird man heteronom von Instinkten oder Ängsten, Nöten oder Wünschen mitgerissen.

Das Bewusstsein ist Ja und Nein. Wenn es Nein ist, dann bedeutet es Stille. Wenn es Ja ist, dann wendet es sich entweder nach rechts oder nach links, zur Wirklichkeit oder zur Möglichkeit, zur Tagwelt oder zur Nachtwelt. In der Tagwelt bemerkt es das Zutuende als Not, in der Nachtwelt als Wunsch. Beide werden erst nach einer sprachlichen Klärung zugänglich, wenn nämlich das Rad hinter und über dem Kopf als Raster aller Erfahrung, als Klaviatur des Bewusstseins erkannt ist; wenn Raum und Zeit in ihrer Gesetzlichkeit verstanden sind und der Mensch eine Sprache meistert, spricht und versteht, die die Wirklichkeit nicht um eine Scheinwelt verdoppelt.

Für eine gewisse Periode des Lebens scheint diese Verdoppelung unausweichlich zu sein: da der heranwachsende Mensch das sprachliche Gehäuse, den local cultural consensus nicht kennt, worin er einmal seine Wirkung ausüben kann, muss er sich zuerst ein empfinden, ohne die Wahrheit des Gehäuses nachprüfen zu können; in Goethes Worten lass mich scheinen, dass ich werde. Doch irgendeinmal wird der Zeitpunkt erreicht, wo die Ausbildung ein Ende hat und die Selbstaktualisierung beginnt. Ab diesem Augenblick wird die Sprache Zugang zu Wesen und Welt. Damit gewinnen die Hände ihre Bedeutung:

  • die linke Hand ist aufnehmend,
  • die rechte Hand ist tätig.

Wir wollen uns nun in diese Strukturen vertiefen.

Arnold Keyserling
Das große Werk der göttlichen Hände · 1986
Voraussetzung
© 1998- Schule des Rades
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