Schule des Rades

Arnold Keyserling

Das große Werk der göttlichen Hände

III. Teil:Entschleierung des Göttlichen

Urmacht der Vier — Tier

Die Pflanze hat ihr Wesen im Traum. Sie wechselt zwischen Same und Gestalt. Wir sind im Werden und Vergehen, stimmen freudig dem Tod zu, weil im Fressen und Gefressenwerden der kosmische Stoffwechsel sich vollzieht. Jedes Tier, das stirbt, erreicht den Zugang zum höheren Bewusstsein, wenn es von Wesen verzehrt wird, die sein Opfer zu schätzen wissen.

Die Pflanze ist senkrecht, zwischen Wurzel und Krone ist ihr Stamm, der die Erdachse als Lichtorgan fortsetzt. Das Tier ist waagrecht, beweglich, und bringt euch die Freude an der Vielfalt des Abenteuers. Unser Tod ist Nahrung für andere. Unser Wesen ist die große Seele unserer Gattung, die wir nie verlieren. Selbstsucht ist uns fremd, denn wir sind immer eingestimmt.

So lerne von uns die Eingebundenheit und Freiheit, die Freude am Kampf, an der Jagd, an der Gemeinschaft und ihren Spielen. Jeder Mensch hat sein Tier, das er früher einmal war. Sein Geist hilft euch aus aller Not, aber nur dann, wenn ihr ihn anerkennt und fragt.

Die menschliche Gesellschaft hat in all ihren Formen ihr Urbild in den Tieren. Die Insekten gehören nicht zu uns, ihr Schwerpunkt ist mineralisch, sie sind die Brücke zur Pflanzenwelt und dienen ihr, haben ihren festen Standort, von dem sie ausschwärmen. Wir haben unsere Stellung in der Gruppe und unser Territorium und müssen kämpfen, um es zu bewahren, weil unsere Art der Kraft des Feuers entstammt. In der Angst und Wachsamkeit, in der Nahrungssuche, im Imponiergehabe, im Kampf und in der Freude am Liebesspiel seid ihr zu uns gehörig; ihr seid es solange, bis ihr eurem Tode zustimmt. Menschen, die den Tod fürchten, die nicht den Verzehr anderer freudig bejahen, weil auch sie bereit sind, an ihrem Tag sich zu opfern und das Sterben als Wandlung zu erleben, können ihre Tierheit nicht verwirklichen. Aus Angst vor dem Leiden bemühen sie sich, Pflanzen zu sein; aber sie bringen es höchstens dazu, falsche Orchideen zu werden, die auf Kosten anderer existieren.

Vieles ist falsch auf der Erde, da wir nicht mehr verstanden wurden. Aber das Wissen der Tiere kommt zurück. Das menschliche Denken ist mineralisch, auf Werkzeuge gerichtet.

Unser Denken ist strategisch, entspricht unserem Kraftmaß, bis das Dasein zu Ende ist und wir wieder in die großen Jagdgründe eintreten, wo wir das Glück der Gemeinsamkeit unseres Stammes erleben.

Ihr müsst uns kennenlernen, um fähig zu werden, euch nicht als Insekten oder bürgerliche Pflanzen misszuverstehen. Die Pflanzen helfen auch zur Ausgestaltung, wir zur Bewährung. Der Tod muss immer vergegenwärtigt sein, denn eure Traummotive sind nicht nur samenhaft wie bei den Pflanzen, sie verlangen auch die Auseinandersetzung, auf dass jeder seine Macht findet und verteidigt.

Als Erzieher seid ihr pflanzlich, als Täter dagegen tierisch. Doch jedes Tier hat seine eigene Rolle im Weltganzen. Nur wenn eure Gesellschaft das versteht, nur wenn ihr eure Tierheit bewahrt, dann bleibt euer Kampf in den Grenzen der Natur. Doch heute droht die Gefahr, durch falsche Verpflanzlichung — die Überschätzung der Kultur — uns alle zu zerstören. Darum bitten wir euch: Seid eurer Tierheit bewusst. Wir sind als Lehrer zu euch gekommen. Ohne uns habt ihr kein Herz, keinen Willen, könnt nie verstehen, was es heißt, sich durchzusetzen und die Fülle der Kraft in Freude zu spüren, dabei aber nie die Ritterlichkeit zu verletzen und in gemeinsamer Not wach zu sein und zu handeln. Das mineralische Denken, das pflanzliche Fühlen sind Vorausbedingungen des tierischen Wollens, aber können es niemals vertreten.

Was ist dein Tiergeist? An uns kannst du erkennen, wie du deine Motive auf das Ganze richten kannst. Wer nicht sein Tier bejaht, kann kein Mensch werden. Wir sind nun mal eure älteren Brüder. Vernichtet ihr eine Gattung, können die ihr entstammenden Menschen nicht mehr erwachsen werden, da wir sie nicht mehr lehren können. Nur noch wenige wissen diese Wahrheit. Aber bald wird die Erkenntnis zurückkommen, und wir werden wieder unsere Aufgabe erfüllen, in euch einzugehen und mit euch dann die Stufe der Menschwerdung zu ersteigen.

Arnold Keyserling
Das große Werk der göttlichen Hände · 1986
III. Teil:Entschleierung des Göttlichen
© 1998- Schule des Rades
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