Schule des Rades

Arnold Keyserling

Luzifers Erwachen

4. Das Nichts im Etwas

Der Löwe löwt; er geht in seiner Existenz auf. Doch der Mensch tut nicht menschen: er nimmt einen Teil seiner selbst für wirklich, und entwertet in dessen Namen einen anderen; sei es die Triebhaftigkeit wie in der Askese, das Alltagsleben aus der klösterlichen Disziplin, oder die bürgerliche Existenz aus der revolutionären Ethik. Hierin liegt das Grundproblem seiner Existenz. Dessen Wurzel lässt sich historisch leicht erkennen: die sprachliche Zivilisation ist eine Mutation nach Millionen Jahren instinkthafter Existenz, und wurde daher als Erreichnis betrachtet. Jetzt besteht sie aber immerhin schon elftausend Jahre, und so wäre es an der Zeit, mit der Vorstellung einer Elite, der Zweimalgeborenen und dergleichen endgültig Schluss zu machen. Alles deutet in der Natur darauf hin, dass die Fähigkeit zur abstrakten Sprache evolutiv einprogrammiert ist und die menschliche Geschichte nicht Gegensatz, sondern Fortsetzung der Entwicklung der Arten auf dem Weg zum Bewusstsein und damit vielleicht zu höherer Existenz im Kosmos darstellt. Daher wird es notwendig, die Intention Gott jenseits allen Bekenntnisses im Sinne des reinen Seins zu bestimmen, zu erleben und zu verwirklichen, auf dass der Mensch aus vollem Bewusstsein ohne falsche Probleme mensche.

Gott ohne Bekenntnis: objektiv, als Inhalt lässt er sich niemals erfahren. Er offenbart, enthüllt sich in dem Augenblick, wenn die Leere erreicht ist, fließt in sie ein. Daher ist die Voraussetzung der großen Erfahrung der als Motto vorangesetzte Satz

Ich bin das Nichts im Etwas

Gegenpol des Nichts ist die Fülle. Wer selbst Kraft will, verliert sie. Die Anstrengung muss darauf gehen, alle Fehler zu beseitigen, alle Blindheit, die den Menschen am Kristallsein hindert. Jeder Mensch, aber auch jedes Tier und jede Pflanze, ja jeder Stein nimmt seine Existenz aus der Urkraft, dem unerschöpflichen Weltenursprung, der gleichzeitig das Bild der Vollendung vermittelt. Nicht nur persönlicher Kraftsuche gilt es zu entsagen, auch dem persönlichen Planen, wird einer offen, so begegnet ihm der nächste subjekthafte Schritt von selbst, die vertikale Ordnung offenbart sich als Kosmos, welcher aber nicht existiert, sondern nur ist: er verlangt die persönliche Teilnahme, um wirklich zu werden.

Bewusstsein kann inhaltlich bestimmt sein; dann ist es nur horizontal, und dauernden Krisen oder Leerläufen unterworfen. Es kann doppelt werden, die vertikale Richtung einbeziehen: dann wird der Organismus zum Gefährt der Lebensmelodie. Die Beseitigung der eigenen Fehler, das Erreichen der Mündigkeit ist Sache jedes einzelnen, hier gibt es keinerlei Offenbarung. Diese kann erst erfolgen, wenn die große Gemeinsamkeit entsteht: Gott ist zwischen den Menschen, offenbart sich im Zwischenraum, im Intervall, in der Leere — ja er ist die Leere selbst, die gleichzeitig höchste Intensität bedeutet, wie es am eindringlichsten der Vijnana Bhairava Tantra veranschaulicht.

Für die Chinesen lebte der Mensch zwischen Tao und Te, Sinn und Leben. Der Sinn ist die ewig neu geschaffene Richtung, das Leben hingegen offenbart sich über die eigene, in der Wirklichkeit geborgene Entelechie. Wer nicht sein Leben bejaht, der bringt gleichsam keine Mitgift in die Ehe; nur wer da hat, dem wird gegeben werden. Doch wer sein Wesen zu wahren sucht — das heißt als statische Vorstellung, als Ich behauptet — muss es verlieren, weil er sich durch den Akt selbst seine Wurzeln zur Urkraft abschneidet.

Gott ist auf drei Weisen aus dem Denken zu erreichen: nach rückwärts über die unterbewussten Triebe, nach vorwärts durch die überbewusste Empfindung; und schließlich als drittes in der Gegenwart durch den auf Verwirklichung gerichteten Dialog zwischen Ich und Du in der Liebe.

GOTT  unbewusst
überbewusst
K r e u z
unterbewusst
bewusst

Im ersten Falle gilt es die Kontinuität des eigenen Wesens bis zurück zur Geburt zu verfolgen, für alles einzustehen was je geschehen ist, eigene Fehler nicht aus Scham zu verleugnen, Demütigungen nicht als endgültiges Scheitern zu betrachten; denn in der Gegenwart wird alles Vergangene durch die Möglichkeit der Zukunft überwunden. In jedem Moment kann der Mensch sein Karma zum Weg verwandeln, indem er alles auf die Ganzheit der Menschheit und der Natur ausrichtet, alle Abkapselung aufgibt und sich seinen wahren Strebensinspirationen anvertraut, solchen, die nicht aus der Vergangenheit stammen.

Hierin eröffnet sich der zweite Weg. Ein indischer Spruch sagt: brauchst du den Guru, so steht er bereits an der Türschwelle. Diesen Spruch aus vergangener Mentalität gilt es zu übersetzen: die nächste Handlung, das nächste Lernen und Erfahren, die nächste Verwirklichung folgt, sobald die letzte durchgeführt wurde.

Der Mensch ist nicht Guru, nicht Herr des anderen: er ist Gefährte. Gott als Vater oder Herr führt nicht mehr weiter, seine Zeit ist vorbei: er ist Offenbarung aus dem Dunkel.

Die direkte Offenbarung enthüllt sich im Dialog, in der gemeinsamen Arbeit — dem, was die Rosenkreuzer als goldene Kette, catena aurea meinten. Nur, dass es keine geheime Kette mehr ist: es geht nicht länger an, dass der normale Mensch der verborgene sein soll; jeder Mensch muss menschen.

Der Mensch ist der Gefährte jedes anderen; er ist es aber nur dann, wenn er dessen vertikale Richtung anspricht und die horizontale Bemühung nicht als Ziel, sondern als Mittel wertet. Der Einstieg in die vertikale Richtung ist nur über den Mut erreichbar, er ist nicht zu vermitteln. Die großen Führer der Bekenntnisse sind Sinnbilder, nicht Vorbilder; ihre Imitation ist undurchführbar, weil jedes Wesen anders ist, andere Möglichkeiten hat und deshalb eine andere Verwirklichung suchen muss.

  • Buddha erklärte, dass die Buddhanatur in jedem ruhe,
  • Christus verkündete die Gotteskindschaft jedes einzelnen,
  • der Prophet Mohammed betrachtete sich als ganz gewöhnlichen Menschen, der nur die Aufgabe habe, die Offenheit gegenüber Gott und Wirklichkeit, dem Islam zu verkünden.

Von ihrer Intention her gesehen strebten alle dem gleichen Ziele zu. Deshalb ist die oekumenische oder im Urwortsinn katholische Haltung die einzig wirklichkeitsgemäße. Entscheidend ist, ob die Intention auf die Vollendung gewahrt bleibt oder nicht. Da jedem Bewusstsein diese Intention innewohnt, erledigt sich der Totalitätsanspruch der Bekenntnisse von selbst. Wo sie wesentlich sind, stimmen sie miteinander überein. Wo sie aber bestimmte Formen, bestimmte Strukturen und Kulturen verwirklichen, da unterliegen sie — gleich den früher von Buddha zitierten Göttern — dem Gesetz des Werdens und Vergehens, ja jenem der die ursprüngliche Intention verkehrt sich in ihr Gegenteil, wie etwa in Ceylon die reine Bewusstseinslehre des Buddha einen Dämonenglauben erzeugte und die Alloffenheit des Islam in seinen Anfängen — man denke an das Wort des Propheten Ihr sollt alles Wissen heimholen, und wenn es sich in China befände — in die erstarrte sunnitische Orthodoxie mündete, die gleich der griechischen Kirche nach Justinian jede echte Philosophie in ihrem Bereich untersagte.

Für Mystiker oder Zen-Buddhisten ist die Verfälschung der Begriffe und Namen gegenstandslos, vielleicht sogar positiv zu werten, weil sie wenigstens dazu hilft, das Gefängnis des Denkens durch seine offensichtliche Absurdität zu sprengen. Wenn aber die Zivilisation selbst betrachtet wird, so wandelt sich der Sachverhalt: die Nahtstelle zwischen Mensch und Gott, Wirklichkeit und Möglichkeit, Einzelner und Gemeinschaft wird allentscheidend. Der Name Gottes wandelt sich, wenn der alte stirbt. Einen solchen Vorgang haben wir in der Gegenwart, wo jegliche Art des Bekenntnisses, so positiv sie im Ursprung auch gewesen sein mag, nur noch negativ im Sinne einer Ideologie wirken kann.

Was soll ein Bekenntnis überhaupt! Im besten Sinne ist es wahr, dann erübrigt sich darüber zu reden. Wenn es falsch ist, dann verdoppelt es die Welt um eine Scheinwelt. Alle Worte gehören nicht dem Sein, sondern der inhaltlichen Wirklichkeit zu. Hier ist Pietät falsch am Platz: ein Glaube im Sinne des Fürwahrhaltens ist nicht nur Unsinn, sondern entwertet das Wissen, das sich an ihn klammert; schon der leiseste ideologische Anklang verhindert die Suche nach dem echten Sein, weil dieses nicht ohne weiteres zugänglich wird: zwischen Sein und Dasein steht berechtigt die Todesangst.

Ein Bewusstsein, das sich mit einem Inhalt identifiziert, muss mit diesem zugrunde gehen, falls jener stirbt. Auch die Hoffnung kann hier nichts ausrichten, denn entweder gelingt der Durchbruch, oder er wird nicht erreicht.

Nur ein Glaube ist echt: dass die Wirklichkeit einen Sinn haben kann, der sich im Verwirklichen offenbart. Alle Pläne, alle Vorstellungen, die in die Zukunft weisen, gehören der Vergangenheit an. Die sogenannte Futurologie hat mit echter Zukunft nur insofern zu tun, als sie das Vergangene, noch in der Gegenwart weiterwirkende bestimmt und damit die Aufmerksamkeit für das echt Unerwartete befreit, was das Wort Zukunft = das Zukommende meinte, wie dies in der katholischen Übersetzung des Vater Unsers zukomme uns Dein Reich noch zum Ausdruck kam.

Die Vereinigung der Bekenntnisse oder der Religionen, wie dies etwa den Theosophen vorschwebte, ist ein Unsinn: Bekenntnisse verstellen allesamt den Weg. Desgleichen die Psychologie mit ihrer Ichvorstellung, wenn sie statische Gesundheit oder Persönlichkeitsbildung anstrebt. Das Nichts ist das Tor zur Transzendenz. Daher kann keine Wissenschaft, keine Technik und keine Methodik je dem wirklichen Streben schaden. Ein Atheist ist dem wahren Gott näher als jener Bekennende, der glaubt, durch das Bekenntnis die Erlösung zu erwerben, wie dies im letzten Satz der früher zitierten Predigt des Buddha am Totenbett zum Ausdruck kommt:…

so wirst du von selbst mit der Überwindung des Hochmuts, dich auf dem Weg zum Heil zu wissen, dem Nirvana näher kommen.

Dies bringt uns in eine zweischneidige Situation. Einerseits ist es notwendig, alle religiösen Überlieferung, alle Wege, die die Transzendenz anpeilten, zu verstehen und zu erlernen und gleichzeitig ihre Führer als Weggefährten zu achten, da sie den inneren Kosmos bilden. Andrerseits gehören alle ihre Formulierungen der einen Wirklichkeit zu, müssen kritisch verstanden und aller Substantialität entkleidet werden: die Bekennenden aller Arten von Ideologien sind die wahren Feinde des neuen Verstehens. Im scheinbaren Opfer ihrer Selbständigkeit setzen sie eine neue ausschließliche Ichhaftigkeit, die schwerer als der bloße Egoismus zu überwinden ist, weil sie im Bekenntnis zur Gruppe scheinbar die Selbstsucht überwindet, jedoch damit diese — die Kirche, Sekte oder Partei — mit der Transzendenz identifiziert und in deren Namen alles, sogar das Opfer des eigenen Lebens fordern kann.

Der jüdische Gott hatte als hauptsächliches Gebot: du sollst keine anderen Götter neben mir haben. Alle Gottesformulierungen sind axiomatisch, stammen aus einer möglichen Struktur. So entspricht der dreieinige Gott der Christen oder die indische Trimurti dem Zeiterleben:

  • Gottvater oder Brahma in der Vergangenheit,
  • Gott Sohn oder Vishnu in der Gegenwart,
  • der Heilige Geist oder Shiva in der Zukunft.

Und die Manavorstellungen der Personen — von welcher die Gnade erfließt — führt zur Unterscheidung bestimmter Kulturformen,

  • wie etwa jene der orthodoxen Christen (Gnade aus der Kraft des Vaters, Leugnung der Geschichtlichkeit),
  • der Katholiken (Gnade aus Vater und Sohn, Bewertung der wandlungsfähigen Geschichte),
  • oder der Protestanten (Gnade aus der Schrift allein, Ablehnung der Tradition).

Der zweifältige Gott (China, Ägypten, Alchemie, Yoga, Tantra) zeigt dagegen Wege der Selbsterlösung, betrachtet aber die soziale Wirklichkeit als Vorhof ohne eigene Bedeutung, und leicht verliert der Adept über der Methodik das Ziel aus den Augen. Die Übung wird zum Selbstzweck, oder es ergeben sich Pseudoziele wie das Elixier eines ewigen physischen Lebens, die Erzeugung materiellen Goldes, oder die Erreichung eines überbewussten kataleptischen Zustandes.

Arnold Keyserling
Luzifers Erwachen · 1972
4. Das Nichts im Etwas
© 1998- Schule des Rades
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