Schule des Rades

Arnold Keyserling

Das magische Rad Zentralasiens

Voraussetzung

Das Epos des tibetisch-mongolischen Helden Kesar Ling, der gleichzeitig mit dem Propheten Mohammed wirkte, hat in Asien die gleiche Rolle wie die Ilias bei den Griechen, es ist die Offenbarung, aus der das geistige Leben des mongolischen Volkes seine Kraft schöpft.

Viele wunderten sich, wie es möglich wurde, dass die Mongolen ohne erkennbare historische Wurzeln mit Dschingis Khan das größte Reich der Geschichte schufen, das für lange Zeit Frieden aus der schamanischen Geistigkeit bescherte, die den Islam und die früheren Religionen bald einbegriff. Der Grund liegt in diesem Epos. Kesar fand das Rad, den Schlüssel der Magie. Jeder Tibeter trägt es heute noch am Gürtel, in Bronze oder Silber. Auf der einen Seite findet sich außen der chinesische Tierkreis als Struktur der Zeit; darin der Achterkreis der Raumrichtungen symbolisiert in den Trigrammen des I Ging, und in der Mitte das magische Quadrat der neun Ziffern als Träger allen Sinnes. Auf der Rückseite sind die vier Bewusstseinsstufen umgeben von den zehn Punkten des Dezimalsystems, die Mitte ist leer:

V o r d e r s e i t e R ü c k s e i t e

Kesar wurde im Himmel berufen, sich auf der Erde zu inkarnieren, um die übermächtig gewordenen Feinde der Religion des Menschen unschädlich zu machen. Sein Schutz war die Erdgöttin Manene.

Die verschiedenen Versionen des Epos — es sind viele tausende Gesänge, die inzwischen gesammelt wurden — werden von jedem der mongolischen Stämme anders gedeutet. Allen gemeinsam sind folgende Komponenten: Kesar wird mit vierzehn Jahren König von Ling, das heißt dem Land des Rades. Er gewinnt einen Wettlauf, damit die Prinzessin und den Thron. Danach muss er die acht verborgenen Schätze finden, die das Geheimnis der Kräfte des Jenseits umfassen:

  1. Schutz vor allen Feinden.
  2. Ein Helm, der sein höheres Selbst beschützt.
  3. Ein Donnerkeil Dorje, der ihn mit der Kraft des Jenseits verbindet.
  4. Ein magisches Schwert, das ihn unbesiegbar macht.
  5. Sechsundneunzig Pfeile aus einem dreifältigen Bambus geschaffen.
  6. Himmlische Eisenmeteorspitzen für die Pfeile.
  7. Ein Bogen aus den Sehnen des heiligen Vogels (Garuda).
  8. Eine Lanze, mit der er Sieger in allen drei Welten wird.

Diese Schätze sind in Ling in einem Berg verborgen, der von einem riesigen Bergkristall gekrönt ist. Hören wir nun die ursprüngliche Version. Kesar kündet:

Hier finden sich die Schätze, mit denen ich meine Aufgabe erfüllen kann. Die zwölf Mondgöttinnen sind die Beschützer. Ich Kesar bin ihr rechtmäßiger Besitzer. Auf Geheiß der Erdgöttin Manene fordere ich sie jetzt ein.

Mit dem Golddonnerkeil öffnet Kesar den Kristall. Dahinter war ein Portal verborgen. Er tritt ein in einen prachtvollen Saal, in der Mitte ist ein großer Thron aus Gold. Darauf liegt das Rad in strahlendem Licht, aus seiner Mitte sprudelt das Wasser der Unsterblichkeit; die Schätze sind darum versammelt.

Kesar bemächtigt sich der Schätze und beginnt nun seine Aufgabe. Als erstes muss er die Heilpflanzen und -minerale aus Indien in die Mongolei bringen. Sie werden von eifersüchtigen Brahmanen monopolisiert. Um ihrer Herr zu werden, muss er viermal die neun Dämonen besiegen:

  1. Die neunköpfige Schlange,
    die den Menschen an die irdischen Triebe bindet.
  2. Die neunköpfige Schildkröte,
    die die Traditionen verhärtet und ins Böse verkehrt.
  3. Er muss den neunstufigen Turm der Chakras umstürzen,
    der den Menschen an eine der Bewusstseinsschichten fesselt.
  4. Er muss Brahma mit den neun Köpfen besiegen,
    die falsche Eigenmächtigkeit der Planeten.

Diese Kämpfe muss er allein ausfechten. Er teilt sich in vier Doppelgänger, Tulkus, die er an den Ecken der Burg in den kardinalen Richtungen aufstellt, Osten, Westen, Süden, Norden. Nachdem er die Brahmanen in eine Illusion gewiegt hat, wird er zum Feuer der Mitte, welches die eifersüchtigen Priester verbrennt. Die Heilmittel lässt er magisch in das Reich des Rades nach Ling fliegen. Doch vor seiner Rückkehr versenkt er sich in Meditation, um alle getöteten Feinde aus der Illusion des Egoismus zu befreien und sie in das Paradies der Seligen zu bringen.

Nun beginnt seine zweite Aufgabe. Er muss die Könige des Nordens, des Westens, des Südens und des Ostens besiegen. Dies dauert viele Jahre, weil ähnlich wie bei Merlin die Frau des Königs im Norden ihn in der Illusion festhält. Aber schließlich gelingt es ihm sich zu erinnern, sein Reich und seine Frau wiederzufinden. Sie war ihm inzwischen untreu geworden und war dem König des Ostens, des Landes Hor, gefolgt. Den letzten besiegt er mit Hilfe seiner magischen Kunst des Schmiedens, indem er unzählige Soldaten aus Metall als Automaten schafft.

Damit ist seine Aufgabe erfüllt und er kann in seine Heimat, die Neue Erde hinter dem Polarstern zurückkehren. Mit seinen vier Gefährten entschließt er sich, mit dem Aussprechen der heiligen Silbe Phat den Körper durch das Scheitelchakra zu verlassen. Er hinterlässt seine Geschichte, in deren Imagination jeder imstande sein sollte für sich das Rad zu entdecken.

Ich hatte die Vision des Rades in einem Spiegel mit einundzwanzig Jahren, und widmete mich seither der Bestimmung seiner Bedeutung. 1961 traf ich in Kalimpong den letzten Nachfahren des Königs von Ling, dessen Vater Alexandra David-Neel — die das Epos 1930 veröffentlicht hat — in Ling besucht hatte.

Dieser erkannte mich als verwandt. Nach Lesen des Buches verstand ich, dass meine Arbeit in Tibet ihre Wurzeln hat. Es handelt sich nicht um traditionelle Philosophie, so sehr ich mich auch in diese vertiefte; das Wissen hinter dem Wissen ist nicht dem Bewusstsein zugänglich, sondern einem anderen Seinszustand, den Mircea Eliade als Enstase bezeichnet und wofür ich den deutschen Ausdruck Gewahrsein gewählt habe.

Das Epos ist kein Traum, sondern eine Offenbarung. Sie beflügelt den Geist der Zuhörer im gleichen Sinn wie bei den Arabern die Märchen von Tausend und eine Nacht. Diese Einstimmung in eine nicht zur Erde gehörigen Bewusstseinsschicht gibt ihnen Mut, im Glauben durchzuhalten, dass der Sinn des Lebens nicht im irdischen Erfolg zu finden ist, sondern in der Befreiung, im Überschreiten der Todesschwelle, wobei buddhistisch und islamische Erlösung mit den Initiationen des Schamanismus verschmelzen.

Die Erlösung der Feinde aus Ichverhärtung und Identifikation durch Erreichen der Klarheit ist im Epos ebenso wichtig wie ihre Überwindung. Das hat mit Wissenschaft nichts zu tun, sondern ist Magie, die unmittelbare Verbindung von Diesseits und Jenseits, den Menschen und Gott. Am Ende seines Lebens schrieb Eliade im dritten Band seiner Geschichte der Glaubensformen, dass das Epos noch seiner Entschlüsselung harrt.

Magie ist Wahl jener Parameter, die in Raum, Zeit, Zahl und Sinnesdaten die gestörte Verbindung zwischen Mensch und All wieder herstellen, auch römisch ist der ursprüngliche Sinn des Wortes Religion Rückbindung zur Ganzheit.

Die Tradition der Magie ist nicht Glaube im christlichen Sinn, sondern Wahl der Kriterien, um sein eigenes Spiel in den göttlichen Reigen einzustimmen. In der Wassermannzeit wird dieser Weg für viele sinnvoll. Wir können nicht mehr das Gedicht eines anderen nachvollziehen, so wunderbar es auch sein mag. Die patriarchalische Orthodoxie wurde mit Unterdrückung der weiblichen Geistigkeit erkauft und ist heute zur Zwangsjacke des Fundamentalismus erstarrt, in ihrer lähmenden Wirkung nicht weniger negativ als die kommunistische und kapitalistische Ideologie.

Magie kam man nicht lehren, sondern nur leben. Sie verlangt den existentiellen Einsatz. Die humanistische und transpersonale Psychologie haben ebenso wie die neue Esoterik ihre Notwendigkeit erkannt, aber den entscheidenden Schritt nicht vollzogen: nämlich das Leben im Rad als gemeinsamen Nenner einer Sprache zu erkennen, die jeden anderen und jede Richtung als Weg zur Vollendung akzeptiert und fördert. Sowohl die Geschichte der Esoterik, von Pythagoras über die Ars Magna, die okkulte Philosophie der Renaissance und die vergleichende Religionsphilosophie der Gegenwart, als auch die moderne Naturwissenschaft mit der Chaosforschung haben das Tor geöffnet, das den Überstieg zur neuen Ebene der globalen Zivilisation ermöglicht. Die imperiale Geschichte ist zu Ende, die Alltagswelt wird wieder statisch, die falschen Unendlichkeiten schwinden. Zur praktisch-horizontalen Bewährung in der wirtschaftlich geprägten Arbeitswelt tritt der senkrechte Weg der Vision, der Aufgabe und des Entwerfens des eigenen Lebensmelodie.

In philosophischer Sprache ist diese Ebene die Weltgrammatik, die Klaviatur des Denkens oder der Gewahrseinscomputer, das Rad. Ich versuche in diesem Buch dessen Kriterien in ihrer Gesamtheit darzustellen, so weit sie mir zugänglich wurden und sich schlüssig aus der sakralen Mathematik ableiten lassen.

Ich begann das Buch während der Rauhnächte 1991 zu schreiben. Die sechs Kapitel sind nach der Qualität des Tierkreises gegliedert:

  1. Nacht des Widders und Tag der Waage: Semiotik.
  2. Nacht des Stiers und Tag des Skorpion: Kosmogonie.
  3. Nacht der Zwillinge und Tag des Schützen: Yoga.
  4. Nacht des Krebses und Tag des Steinbocks: I Ging.
  5. Nacht des Löwen und Tag des Wassermann: Astrologie.
  6. Nacht der Jungfrau und Tag der Fische: das Meisterspiel.

Die Semiotik zeigt die Sprache als Baugrund des unsterblichen Wesens. In der Kosmogonie erläutere ich, wie sich die Struktur der Mathematik und des Kosmos in der Phänomenologie vereinen lässt. Im Yoga zeige ich den Zusammenhang zwischen Gehirnstruktur, Chakras und Läuterungsweg. Der I Ging offenbart das Gesetz der Kreativität. Die Astrologie bestimmt die Anlage als Weg. Das Meisterspiel ermöglicht uns, in jeder Situation den tieferen Sinn mantisch zu erfassen.

Es ist mir gelungen, die Komponenten des Epos — die acht Schätze, die neun Gefahren, die zwölf Mondhelfer, die vier Bewusstseinsstufen und das Dezimalsystem als Grundlage der Magie — zu klären. Das Buch ist kein Lesebuch, sondern ein Handbuch zum theoretischen Studium und zum sinnvollen Handeln.

Arnold Keyserling
Das magische Rad Zentralasiens · 1993
Schlüssel der Urreligion
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD