Schule des Rades

Arnold Keyserling

Das magische Rad Zentralasiens

II. Kosmogonie

Denken - Elektron - Tier - Sonne - Seele

Denken ist strategisch; ein Tier findet immer aus einer bedrohlichen Lage einen Ausweg. Die erste Strategie ist die Flucht; nur wenn diese nicht möglich ist, stellt es sich zum Kampf.

Aber das Sterben ist dem Tier nicht fremd; die Indianer sagen, es stimme seinem Tod als give-away zu. Auch beim Menschen sind Jagd und Sammeln die Urwege der Befriedigung in der Altsteinzeit gewesen. Doch im Unterschied zum Tier ist er werkzeugschaffend und das Urwerkzeug war die Waffe, mit der er besser jagen konnte und die ihm dann auch im Kampf um die Vorherrschaft diente. Das instinktive Gleichgewicht der Triebe ist sprachlich nicht zu erreichen; die Menschen verteilen sich nicht wie die Tiere in einem Wald nach abgegrenzten Territorien, die sich nach dessen Größe richten. Sie sind auch nicht bereit, einmalige Siege anzuerkennen, wie das Alphatier in der Hierarchie fortan unangefochten herrscht.

Denken ist beim Menschen in Entsprechung zum Nordstern; das Selbst stellt die Bewusstseinsinhalte verstehend um sich herum. Ein Mensch wird neurotisch, wenn er sich nicht frei entscheiden kann. In der Seele dagegen handelt es sich darum, das Ich aus den Übertragungssituationen zu lösen und frei miteinander zu verkehren.

Das Ich sollte leer sein. Das ist nur möglich, wenn die seelischen Verhältnisse nicht bekämpft, sondern anerkannt werden. Der Ursprung aller Beziehungen liegt in der Zweiheit, mineralisch bei den beiden Elektronen der ersten Schale in Entsprechung zur Fortpflanzung.

Diese Zweiheit wird zur Gesellschaft, und die Gesellschaft hat ihr Urbild im Tierreich. Die tierische Verhaltensforschung zeigt eine wesentliche Grundlage aller echten Politik. Sobald eine Gefahr da ist, der die einzelnen nicht gewachsen sind, tritt das Ich zurück und die tierischen Instinkte übernehmen. Le Bon bezeichnete diesen Vorgang als abaissement du niveau mental: die Gruppe wird zur manipulierbaren Masse, die Schlagworten wie Reizen folgt. Die Auflösung des Individuums in der Masse, die dem Tod gleicht, wird von vielen wie im Augenblick einer Revolution als große Befreiung erlebt.

Geld und Macht sind die beiden menschlichen Exponenten von Selbsterhaltung und Arterhaltung. Im Tier sind sie durch die instinkthafte Einstimmung vereint. Darum richtet sich auch manche menschliche Paradiesvorstellung auf eine Zeit, da die tierische Harmonie noch nicht verloren war und die Menschenhorden sich durch ein Ritual mit einer Tiergattung verknüpft fühlten.

Das Tier ist einerseits durch den Grenzzyklus-Attraktor und die Zweiheit der Elektronen, also durch das Ritual in der Zeit durch den Jahresrhythmus der Sonne bedingt. Viele Tiere sind solar ausgerichtet wie die Zugvögel; eine Reihergattung fliegt im Jahresrhythmus vom nördlichen Polarkreis bis zum südlichen und wieder zurück; die Rentiere vollziehen die Bewegung auf der Erde, Fische durchwandern alle Meere. Alle Tiere sind Erdbewohner, wenn auch manche Arten bestimmte Landstriche bevorzugen. Die Verschiedenheit von Fauna und Flora entspricht den verschiedenen Sprachen der Völker bei den Menschen. Die Indianer behaupten, die Tiere seien unsere Lehrer, wenn wir unser Bewusstsein ihnen öffnen, können wir intuitiv die richtigen Strategien erkennen ohne nachzudenken. Denken gehört zur zweiten Dimension der Fläche, zum Grenzzyklus-Attraktor, wo die Linie zum Kreis wird.

Die Pflanze geht in die Gattung zurück ohne Individualität. Das Tier wird Teil des Tiergeistes nach dem Tod, und dieser ist nach der amerikanischen Tradition der Kommunikation zugänglich. Jeder Mensch hat ein oder mehrere Tiere als Helfer, und erst aus deren Zusammenhang versteht man den Tierkreis. In der Evolution hat der Mensch als Urbild erst alle Tierformen aus seiner Potentialität entlassen, ehe er im Alluvium, der Eiszeit als erstes nicht spezialisiertes Wesen seine Entwicklung begann.

Da man Kinder hat und die individuellen Ansprüche durchsetzen will, ist Kampf unausweichlich. Der Widerstand gegen das Individuum seitens der Gruppe und der Tradition ist normal. Vielleicht lässt sich dieser Zusammenhang mit der Grabwespe vergleichen, die im Durchbrechen des Eies ihre Vitalität findet. Wenn man einer solchen aus falschem Mitleid hilft, dann ist das Individuum nicht überlebensfähig.

In vielen Stämmen fand ein Jüngling erst eine Braut, wenn er seinen ersten Feind getötet hatte. Aber der Mensch ist nicht mehr Tier, sein Schwerpunkt liegt im Wachen. Darum wird sein Kämpfen maßlos. Die wirklich menschliche Ebene ist jenseits des Tierrituals in der Zivilisation. Man könnte sagen, beim Tier gibt es nur das Selbst und kein Ich. Beim Menschen aber erwächst das Ich in der Sprache und er muss es bewusst zum Selbst rückverbinden. Das Selbst ist mineralisch der Atomkern, und pflanzlich die Fähigkeit des Wachstums aus der eigenen Anlage. Im Tier führt es zur Selbstbehauptung. Beim Menschen muss es die Herrschaft des Selbsterhaltungstriebs überwinden, um zur eigentlichen Person zu werden. Personare heißt durchklingen. Dies wird möglich, wenn rechts und links im Großhirn unterschieden werden und sich der einzelne zwischen Traum und Wirklichkeit, Jenseits und Diesseits entfalten kann.

Um sich als Mensch zu entfalten, muss der tierische Organismus sprachlich artikuliert sein, da die Instinkte nicht mehr unterbewusst die Strategien lenken. Die beiden menschlichen Ausdrücke des Aggressionstriebes sind Geld und Macht. Geld ist die Fähigkeit, immer neue Wege zu finden, um sein Leben zu verdienen. Es ist auf dem Denken begründet und verlangt Freiheit und Unabhängigkeit; Unabhängigkeit in dem Sinn, dass wenn eine Arbeit einem nicht liegt oder man einen Vorgesetzten nicht mag, sie aufgibt und stattdessen eine andere sucht. Voraussetzung hierzu ist, dass man eine Tätigkeit entfaltet, die für andere nützlich ist.

Hierzu tritt die Notwendigkeit nicht nur für sich, sondern auch für die Familie zu sorgen und dass man seinen festen Ort in der Hierarchie findet, in der Folge der Generationen. Die Hälfte der Menschen im Lebenskreis von vierundachtzig Jahren — zwischen einundzwanzig und dreiundsechzig — muss für die andere Hälfte, die Jugend und das Alter aufkommen. Hierzu darf weder der Kapitalismus im Sinne des Liberalismus noch der gewerkschaftliche Sozialismus überwuchern. Die beiden wirtschaftlichen Ideologien des 18. und 19. Jahrhunderts, die französische Vorstellung der notwendigen Bedürfnisbefriedigung und die englische darwinistische der natürlichen Selektion, das Überleben der Tüchtigsten, muss eine proportionale, keine arithmetische Lösung finden. Das Bruttonationalprodukt ist kein Ziel sondern ein Mittel. Jeder Mensch sollte nur jenes Geld und jene Stellung haben, die für die Bedürfnisse seines Selbst und die Unternehmungslust seines Ich ausreichen. Hier herrschen heute falsche Unendlichkeiten; jeder wäre zufrieden, sobald er sein Auskommen hat. Jedes Wesen verwendet nach Befriedigung seiner Bedürfnisse die überschüssigen Energien und Mittel freiwillig für andere.

Erst nach dem Ende des Streites zwischen Ost und West 1989 ist das offensichtlich geworden, und ferner die Tatsache, dass diese beiden tierischen Ideologien heute drohen, das ökologische Gleichgewicht der Erde zu zerstören.

Aus der Entfaltung des Menschentieres ist verständlich, dass die Technologie, die die Befreiung aus mechanischer Fron brachte, zuerst einmal für die Verteidigung und Bewaffnung entwickelt wurde, gleichwie die meisten Kriterien der Gesundheit und der Medizin durch Arbeit mit Kranken entdeckt worden sind. Mit dem Wegfall des Ost-Westkonfliktes wird es nun möglich, Überleben und Selbstaktualisierung miteinander zu verbinden. In der Wassermannzeit arbeitet der Mensch nicht mehr wie in der vergangenen hierarchischen Epoche im Schweiße seines Angesichts für das Überleben, sondern für die Verkörperung seiner Möglichkeiten, seiner Träume im Werk der sprachlichen Zivilisation.

Die Kriterien der Stufe des Menschen sind auf das Jenseits gerichtet, auf den Traum. Er verliert die Symmetrie zwischen rechts und links, die sowohl das Tier als auch den Tiermenschen bestimmt hat. Die menschliche Ebene des Wachens hat folgende Reihung der Begriffe:

Arnold Keyserling
Das magische Rad Zentralasiens · 1993
Schlüssel der Urreligion
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD