Schule des Rades

Arnold Keyserling

Das magische Rad Zentralasiens

I. Semiotik

Beginn der Geschichte

Betrachten wir nun das Rad wie es seit Beginn der Geschichte in der Religion des Menschen, im Unterschied zu den historischen Offenbarungen von Teilwegen, im Symbol artikuliert wurde, das in Krisenmomenten spontan vor dem inneren Auge auftaucht. Es lässt sich dreifältig begreifen. Zeitlich ist der Mensch ein Ich zwischen Geburt und Tod. Der erste Atemzug mit dem Horoskop bestimmt seine Anlage. Die Mitte des Kreises ist sein Selbst im Raum, wo alle Inhalte des Erlebens um das ruhende Zentrum des Rades und damit der Erdmitte angeordnet sind. Gegenüber dem Ich steht das Du, und Ursprung aller Dus ist Gott, der Mensch im All. Jede echte Beziehung zu einem anderen lässt Gott erscheinen, da er die Liebe zwischen beiden schafft.

Dieserart erzeugt der Mensch sein eigenes Leben als das Verbindende zwischen Ich und Selbst. Er verwandelt den Nebel der Urkraft durch das Urlicht des Gewahrseins in sein geprägtes Wesen. Der Anfang dieses Weges ist die Anerkennung des Dunkel, denn nur das Dunkel, das Chaos, kann vom Urlicht erhellt und kosmisiert werden.

Das Urlicht ist der männliche zeithafte Aspekt der Gottheit, die Urkraft der weibliche räumliche. Der männliche Aspekt sorgt dafür, dass jede Anstrengung ihren Platz im Sinn, in der großen Harmonie des Tao findet. Die Urkraft ist der Geysir, der ewig sprudelnde Quell, den wir heute als Selbstorganisation bezeichnen, als die Fähigkeit des Wollens und der Wahl. Wesen ist geprägtes Sein, also das, was wir vom Menschen im All, von Gott im Chi integriert haben. Nur das Wesen ist imstande, mitmenschlich zu wirken.

Y i n · Y a n g

Der Urgrund ist die Null, der Ursprung als vorschwebendes Ziel der Rückkehr ist die Eins. Aus Null und Eins entsteht die Welt der Zahlen, das Werkzeug des großen Ich. Dieses Wissen ist nicht analytisch oder synthetisch zu ermitteln, sondern als Offenbarung zu schauen. Gott ist kein absolutes Abstraktum wie für die Philosophen, sondern der Freund im All, der uns ewig über den Augenblick die gegenwärtige Wahrheit weist.

Sinn und Ziel des Lebens ist die Schaffung des Wesens. Das Werkzeug hierzu ist das Rad als Darstellung der Welt möglicher Verknüpfungen, also der Zahlen. Zahlen haben nur Sinn und können beliebig mit Bedeutungen bekleidet werden.

Wenn alle Zahlen berücksichtigt sind, kann ihre endliche Anzahl dem Menschen als Leitfaden für seinen Weg zur neuen Erde dienen, wo nach chinesischer Auffassung Liebe und Gerechtigkeit verschmelzen.

Das Rad war seit jeher bekannt. In den letzten Jahrtausenden wurde es nur esoterisch im Geheimen überliefert. Doch heute am Beginn der Wassermannzeit wird es zum Ausgangspunkt, zur Karte und zum Werkzeug eines jeden, der für den Aufstieg reif ist.

Schließen wir die Augen. Lassen wir auf der Wand unserer Stirn durch die Vorstellung des Denkens über das Wort das traditionelle Symbol der Erde, das Radkreuz auftauchen. Betrachten wir uns dieses Symbol. Es ist keine Phantasie, sondern eine Vorstellung des Denkens, der Ansatz unseres Weges.

Haben wir das Urbild fest im Griff, dann können wir daran gehen, seinen Gliederbau zu erörtern. Die Wissenschaft bestimmt die Beziehung vom Ich zur Welt als mögliche Strategien. Die Offenbarung eröffnet die Beziehung vom Selbst zum All. Sie ist nicht zu schaffen, sondern zu empfangen. Null und Eins vor der Schöpfung und nach der Schöpfung kehren sich um. Vor der Schöpfung ist der Raum die Null, indianisch Wakhan, die Zeit die Eins, Skwan. Nach der Schöpfung ist die Zeit die Null, weil man nur in ihr Neues empfängt. Die Null ist das Nochnicht, und die Eins die erreichte Integration im Selbst. Das Wesen entfaltet sich zwischen diesen beiden. Sie sind im Rad in der Diagonale von links oben im Osten zur Kreismitte als Erdmitte zu erfahren:

I c h · W e s e n · S e l b s t

Das Ich umwandert in der Lebenszeit den ganzen Kreis. Das Selbst ist die ruhende Mitte in der Bewegung. Sie wird mathematisch durch den Schritt in die Unendlichkeit erreicht. Nach innen zu verlangsamt sich die Bewegung notwendig. Wird sie unendlich klein zum Punkt, dann ist die Mitte erreicht. Für viele Menschen wie auch für mich war dies Erreichen, in Don Juans Worten stopping the world, ein entscheidendes Erlebnis.

Im Selbst ist die Bewegung die Eins, sie ist beschreibbar, und die Null die Ruhe. Selbst vereint also Eins und Null. Im Ich ist das Subjekt die Null und die Eins ist die Welt, die gegeben ist, die man erfährt und in die man hineinwirkt.

Die Vereinigung von Null und Eins ist Gott als das Einende Eine. Das Selbst ist mit Gott in der Teilhabe identisch, das Ich im Wirken. So ist die Welt der Zahlen keine Wissenschaft, sondern Gottesweisheit. Sie befähigt uns an der Liebe, der Kommunion des All teilzuhaben.

Wissen ist der Unterbau, Weisheit die Krönung. Vom Glauben führt kein Weg zur Weisheit, weil er in seiner heute üblichen Form die Überantwortung an einen vermeintlich allmächtigen Gott bedeutet. So sehr auch eine solche Einstellung dem Kind und dem sich entfaltenden Menschen für eine gewisse Periode frommen kann, so falsch wird sie, sobald die Autonomie erreicht ist. Gott ist mathematisch als Maximum und Minimum, als größte und kleinste Zahl der Vorstellung allgegenwärtig, aber nicht allmächtig. Das Göttliche ist nicht Aktualität, sondern Potentialität. Daher heißt es auch im ältesten Weisheitsbuch der Menschheit, dem Buch der Wandlungen:

Die heiligen Weisen vor alters machten das Buch der Wandlungen also: Um in geheimnisvoller Weise den lichten Göttern zu helfen.

Diese bedürfen also unserer Hilfe, um auf Erden wirken zu können.

In der Wassermannzeit wird jeder zum Feind, der eine ausschließliche Ideologie vertritt, der also die Wahrheit in Worten sucht und nicht in den Zahlen. Worte gehören zu einem bestimmten Denkstil. Ich habe deren Grundtypen in meiner Geschichte der Denkstile an Hand lebendiger Beispiele veranschaulicht. Aber Weisheit ist kein Denkstil. Sie ist das Verstehen der heiligen Zahl, indianisch des sacred count, islamisch der Weltgrammatik und kabbalistisch der Sefiroth, der neun Namen Gottes.

Die Wassermannzeit wurde als Zeit des Friedens prophezeit. Dessen Voraussetzung wäre, dass die Ideologien, Gruppen, Bekenntnisse und Weltanschauungen ihre Macht verlieren. Solange eine Teilwahrheit den Weg auf die ganze Wahrheit verstellt, wird sie zum zersetzenden Fremdkörper. Glaubenssysteme sind ebenso verfehlt wie Überzeugungssysteme und verhärtete Meinungen. Weisheit kann nicht für Fachleute oder eine Elite gelehrt werden, sondern nur über die Einsicht in den wahren Sinn der Ganzheit. Wir müssen uns nicht fragen, sagte Poincaré, ob die Welt eine Einheit ist, sondern wie sie eine Einheit ist; erst dann erkennen wir den Zusammenhang. So hat Weisheit einen Ausgangspunkt: die Entscheidung zur Erkennbarkeit des Sinnes, glauben im altgriechischen Sinn des nomizein, des Anerkennens.

Gott ist nicht das Wort, er ist die Zahl. Zahl kommt von zählen. Der Beginn des Johannesevangeliums lautet im Urtext: Im Anfang war der Logos — von legein, zählen. Dass das Wort nicht die Wahrheit, sondern linguistisch eine Deutung der Wahrheit ist, wird aus folgender Gegenüberstellung offensichtlich:

5
5
Bären und
+
6
6
Wölfe sind
=
11
11
Tiere :
:
Bedeutung und
nur
Sinn
Sinn

Weisheit ist die Fähigkeit unter allen Bedingungen und Umständen von der Bedeutung zum Sinn, also dem Zusammenhang mit dem Sein und mit Gott durchzustoßen.

Die Copula der prädikativen Aussage hat keinen Bedeutungsinhalt; sie ist die Grundlage der Logik und Logistik, kann aber jeder Deutung aufgestülpt werden. Aber der Mensch ist nicht Satzsubjekt, sondern Sprechsubjekt. Weisheit ist also beschreibbar; sie bedeutet, die Subjekthaftigkeit vom Wort auf die Zahl und den Gesamtzusammenhang aller Zahlen zurückzuverlegen.

Dieser Gesamtzusammenhang ist das Rad, das Ursymbol der Religion des Menschen, wie sie in Tibet im Gcug überliefert wurde. Seine Grundlage ist die Systemik der heiligen Mathematik. Analog wurde sie von den Tibetern im Symbol gefasst und kritisch durch den ersten Menschen, der das Wort Philosoph für sich in Anspruch nahm, durch Pythagoras.

Mathematik gliedert sich in Arithmetik oder zeitliche Rechnungsarten, Geometrie oder räumliche Dimensionen und Zahlenarten. Zusammen bilden die Drei das Urbild des Verstehens, die Vernunft als ratio essendi im Unterschied zur ratio cognoscendi des Verstandes, die beim Durchschnittsmenschen schläft, aber erweckt werden kann. Diese Erweckung führt zu einem ähnlichen Ergebnis wie die Bekehrung zu einem Glauben: der Mensch findet fortan sein wahres Subjekt im Göttlichen als dem Einenden Einen.

Jedes traditionelle Gottesbild war zeitgemäß richtig. Krishna erklärte im vierten Kapitel der Bhagavad Gita, dass in jedem Zeitalter die Offenbarung neu auf die Welt kommt; hinter diese letzte brauche man nicht zurückzugehen. In der Fischezeit war es die Nachfolge; in der Wassermannzeit ist es der Weg der Zahl, und der entscheidende Schritt ist nicht die Bekehrung von der Sündigkeit, sondern der Überstieg vom Wissen zur Weisheit, jenem Wissen hinter dem Wissen, das die pythagoräische Tradition als Esoterik bezeichnet hat.

Weisheit kann weder von der Geschichte ansetzen noch von einem Religionsstifter oder Guru. Sie leuchtet keiner Gruppe ein, sondern nur jenen Einzelnen, die linguistisch gesprochen vom Satzsubjekt zum Sprechsubjekt aufsteigen. In der pythagoräischen Schule der Weisheit musste der Adept fünf Jahre schweigen, bevor er vom Akusmatiker, dem Zuhörer, zum Mathematiker, dem Handelnden aus der Zahl wurde.

Die damalige öffentliche Struktur war auf Hierarchie und Besitz aufgebaut und die Schule wurde zu einem politischen Bund, der nach dem Tode des Pythagoras vernichtet worden ist. In der heutigen technologischen Zivilisation entscheiden nicht mehr Macht und Besitz über den Sinn des Lebens, sondern das Verstehen und die Einsicht, die einen den sinnvollen Ort des Mitwirkens erkennen lassen. Daher gilt es heute alle philosophischen Fragen neu zu stellen. Kein Weg führt aus der traditionellen akademischen Einstellung der Wahrheitsfindung durch Verteidigung von Meinungen und Thesen zur Weisheit. Doch frühere Kulturen kannten diesen Weg. Für die Ägypter entsprach das rechte Auge der Sonne, dem Tag und dem Wachen, das linke dem Mond, der Nacht und dem Traum. Ihre Initiation bedeutete, das linke Auge des Osiris zu erwecken, um die Nachtfahrt, die Zeit nach dem Tode bis zur Wiedergeburt zu bestehen.

In unserer Sprache schaut aus dem rechten Auge das Ich, aus dem linken das Selbst. Das linke ist bei wenigen entwickelt; das Ich muss vom Täter zum Ichorgan werden, das Selbst vom Zeugen zum Handelnden reifen.

Arnold Keyserling
Das magische Rad Zentralasiens · 1993
Schlüssel der Urreligion
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD