Schule des Rades

Arnold Keyserling

Das magische Rad Zentralasiens

III. Yoga

Gewahrsein

Betrachten wir nun das Gewahrsein. Wie aus dem Raum des Hyperkubus die vier Attraktoren zu begreifen sind, so kommt aus dem Augenblick der Zeit in der nullten Dimension, aus dem Subjekt die achtfältige Eingliederung des Körpers. Die sieben Chakras haben Ursprung und Ziel in der Null, räumlich im Osten, weil dort die Zeit anhebt. Die Gottheit offenbart sich als ewig erklingende Stimme von außen, nicht aus dem Inneren des Menschen. Das Wesen wird dauernd von ihr geschaffen und erzeugt, wie Meister Eckhart sagt: Gott gebiert sich selbst als ewigen Sohn. Wie die Zeit eine Qualität hat, die sich über Funktionen und Bereiche bestimmen lässt und die im Quintenzirkel des Tierkreises verräumlicht wird, so werden die Raumrichtungen in ihrer Qualität durch die Zeit verständlich. Der Mensch wird dauernd vom All gezeugt, ernährt und verwandelt. Das Subjekt als Sein des Wesens ist nicht in ihm, es ist im Göttlichen.

Die Achtfältigkeit führt in der Materie zur molekularen Sättigung, auf dass Urkraft und Urlicht einander treffen können. Wir haben die Reihenfolge im periodischen System dargestellt. Die Raumrichtungen haben eine andere Zählweise. Die Zahlen von 1 bis 4 bestimmen das Selbst, die Zahlen von 6 bis 9 das Ich. 0 ist Gott als Urkraft, 10 ist Gott als Urlicht, und 5 steht dem Menschen im All gegenüber. Diese drei Zahlen sind auf der Mittelachse von der Erdmitte zum Polarstern. Die Erdmitte trägt das Selbst aus dem Gewahrsein; der Polarstern ist Ursprung des Ich und Ort der Neuen Erde als Himmelsmitte, und der Ort des Menschen auf der Erde empfängt die Richtungen als Anlass zur Wesenswerdung.

Diese Ordnung wurde von den Indianern übermittelt. Sie ermöglicht uns, die Einwirkung von Mikrokosmos und Makrokosmos auf den Mesokosmos von objektiver Betrachtung in subjektive Teilnahme zu überführen. Das ganze Weltall will uns wohl, wenn wir uns nicht abschließen. Letztlich ist jedes Subjekt Teil Gottes. Aber auf Grund der Drehung der Erde entstehen die Himmelsrichtungen, in Entsprechung zu den persönlichen Richtungen des Körpers von seiner senkrechten Achse aus.

R a u m k r e i s M e n s c h · i m · R a u m

Osten, Westen, Süden und Norden bestimmen das Selbst. Südosten, Südwesten, Nordwesten und Nordosten prägen das Ich. Die Zahlen sind geometrisch und arithmetisch das Werkzeug, um aus dem Gewahrsein das Wesen zu schaffen.

  1. Die ruhende Mitte der Erde ist der Ort, wo die Null als Ausdruck des Einenden Einen den Menschen die Urkraft zugänglich macht. Sie ist vor dem Zählen wie auch in der Mathematik, wo 0 die Klasse aller natürlichen Zahlen ist.
  2. ist im Osten. Dort geht der Himmel auf und ich erlebe das Licht. Licht und Feuer sind Ausdruck des gleichen Ursprungs. Durch die Drehung der Erde geht der Himmel mit der Sonne im Osten auf; doch zeitlich ist nur bei den Äquinoktien die Sonne wirklich im Osten. Gott im Osten ist die Offenbarung des Zeitgeistes, die ewig erklingende Stimme. Ich kann sie nur hören, wenn ich im Westen stehe.
  3. ist der Westen, das Wollen. Wie im Osten das Licht, erlebe ich im Westen die Kraft. Die Kraft ist im Mineral inkarniert. Das Wollen verlangt die Leere, die Kraft offenbart sich im Kristall. Zwei ist die Fähigkeit des Wachstums, in der Zahlenwelt nach dem Oktavgesetz, im fraktalen Chaos in der Selbstähnlichkeit, symbolisiert im Tai·Chi·Zeichen. Kosmos und Chaos verhalten sich zueinander wie Sinn und Bedeutung. Der Kosmos ist durch die Resonanz geprägt, das Chaos ist das, was prägbar ist.

    Im Osten erscheint der Himmelsgott, im Westen antwortet ihm die Erdgöttin. Bei den Navahos werden diese beiden Gestalten als Erster Mann und Erste Frau bezeichnet, aus denen Himmel und Erde entstanden sind. Bei den Ägyptern trennte der Gott Schu den Himmel von der Erde und ermöglichte damit den Menschen, sich in der Mitte, im Leben zu entfalten.

    Die Potenz (Macht) des Ostens eröffnet die Offenbarung, die Potenz des Westens, die Schwere der Erde, die Fähigkeit von Wahl, Entscheidung, Einstehen und Durchhalten. Der Mensch muss seine Chakrastruktur stabilisieren, die Chakras öffnen, denn nur siebenfältig kann er das Einende der Offenbarung empfangen.

    Osten und Westen sind in der Dämmerung. Don Juan nennt sie the crack between the worlds, wo alles offen ist. Tag und Nacht, Makrokosmos und Mikrokosmos halten sich die Waage.

  4. Süden ist die Mitte und der Beginn des Tages, nicht nur astronomisch sondern auch geistig. Hier ist der Ort der Seele, die sich nur im Wesen — also sonnenhaft, wie wir aus der Kosmogonie wissen — in Vertrauen und Unschuld entfalten kann. Im Süden helfen die Pflanzengeister, die Krankheiten und schlechte Energien assimilieren und ableiten können.

    Die Sonne ist im Tierkreis. Der Tagesbeginn geht im Jahreslauf senkrecht hinauf und herunter, überschreitet aber nie die Tropen, also bei uns in der nördlichen Hemisphäre den Wendekreis des Krebses. So müssen wir uns im Sonnenort des Südens, der astronomisch nach Norden weist, im Meridian vorstellen, wie ihn die Astrologie als Medium Coeli betrachtet. Nur zur Sommersonnenwende ist die Sonne ganz im Süden. Dagegen ist der Polarstern in der Nacht immer im Norden.

  5. Im Norden hilft dem Menschen die Macht und Potenz der Tiere, der Weisheit und Strategien, das Denken. Verirre ich mich im Denken, werde ich verstört, weil ich der Lage nicht gewachsen bin. Dann kann nach indianischer Überlieferung der Tiergeist mich retten. Verstehen bedeutet etymologisch etwas um sich herumstellen und es dadurch zu beherrschen. Dieses Beherrschen ist nicht persönlich; es ist am Ort des Himmels, der Neuen Erde.

    Die Vorstellung ist nicht in der Außenwelt, sondern vereint Außenwelt und Innenwelt. Das Ergebnis der Assoziations­fähigkeit ist eine Strategie, ein Gedächtnis, das auf Grund der Sprache das Wissen bereichert und dem alle kulturelle Entwicklung entstammt.

  6. Die Mitte auf der Erde im Unterschied von der Null in der Mitte der Erde ist die Fünf als Zahl des Menschen, aber nicht als Ich oder Selbst, sondern als Wesensgrund. Das mikrokosmisch gesteuerte Selbst läuft Gefahr den Zusammenhang mit dem All zu verlieren. Nur durch das makrokosmische Ich kann es diesen erschaffen. Das Wesen der Mitte ist Teil der Menschheit, vereint Einzelheit und Allheit. Es wird von Augenblick zu Augenblick im Werk erschaffen. So ist die Mitte leer, und die Fünffältigkeit bedeutet Einstimmung in alle fünf Dimensionen.

    Selbst ist der Teil des Wesens, der den Vorfahren und früheren Inkarnationen entstammt. Das Ich tritt vom Gewahrsein mit der Geburt hinzu. Auf der Ebene des Tieres vereinen sich Selbsterhaltung und Arterhaltung unbewusst und instinktiv. Auf der menschlichen Ebene der Evolution, der ersten Dimension der ganzen Zahlen mit der Null als Mitte zwischen positiv und negativ, muss man sich zum Aufstieg entschlossen haben. Daher werden in der indianischen Anrufung zur Mitte nur jene gerechnet, die guten Willens sind. Das hat bei den wortverhafteten prophetischen Religionen zu furchtbaren Katastrophen, zu einem berechtigten vermeintlichen Kampf zwischen gut und böse geführt. Jede Religion hielt sich für gut und die Ungläubigen für schlecht. An die Stelle des persönlichen Egoismus tritt ein kollektiver, national formuliert im englischen Axiom right or wrong my country, oder im jesuitischen, der Zweck heiligt die Mittel.

    Nun kommen wir vom Selbst zum Ich.

  7. Südosten ist zwischen der Offenbarung des Ostens und der sonnenhaften Seele. Dies ist der Geist, personifiziert in den Ahnen. In der pazifischen Religion soll die Initiation des Sterbens den Adepten in einen Ahnen verwandeln. Nicht die Vorfahren, sondern die Ahnen und lebenden Menschen auf der Erde bilden den Zusammenhang der fünffältigen Menschheit. Ahnen sind nur jene, die ihrem Selbst über den Wortleib das Ich zufügten. Das nullhafte Ich ist ein Organ des Werkes, also der Mitarbeit an der Geschichte. Es gibt keine negative Geschichte, sondern nur die positive des morphogenetischen Feldes. Was immer Menschen gefunden und erschaffen haben, steht über die Inspiration allen zur Verfügung, aber nur dann, wenn man bereit ist, die negative Geschichte zu verlassen, das gestrige persönliche Unrecht persönlich wie kollektiv zu vergessen.
  8. Südwesten ist der Ort des Körpers, der durch die Elementale vitalisiert wird. Hier ist das Tor zu den Traumwesen in ihrer Substanz: in nordischer Sicht die Elfen des Feuers, die Trolle der Erde, die Zwerge der Luft und die Feen des Wassers. Sobald ich die Ahnen gefunden habe, indem ich mein Ansinnen darauf richte ihr Werk zu vollenden, also mich selbst unter Einschluss meines Todes historisch als Teil der goldenen Kette zu begreifen, dann steht mir die dionysische Kraft der Elementale zur Verfügung. Ich kann magisch Wunder vollbringen, die aber nicht von mir stammen, sondern aus dem Jenseits. Südosten und Südwesten sind im Tag, Nordwesten und Nordosten in der Nacht. Die Taghälfte geht von der Gemeinschaft aus, die Nachthälfte vom einzelnen. Ihr Bereich ist die eigene Läuterung, die Anjochung der Chakras, was nicht weniger wichtig ist als das Schicksal der Menschheit. Gott ist im Kollektiven nur im Himmel, nicht auf der Erde. Jeder Versuch, eine religiöse Organisation zu schaffen wie heute im atavistischen Fundamentalismus aller Bekenntnisse führt in die Katastrophe.
  9. Der Nordwesten bestimmt in den Chakras das Fühlen, doch im Raumkreis den Ort der Engel; jener Potenz und Macht, die Gott mir persönlich zugänglich macht. Die christliche Tradition spricht vom Schutzengel, der sich später in die Aufgabe verwandelt — Angelos heißt Botschaft — die hawaiianische vom weisen Alten, der nur über das magische Kind dem Sprechenden Selbst im Herzen zugänglich wird. Jeder hat seinen Engel. So sollte er sich der Erklärungen seines Lebenssinnes, wie viele medizinische und psychologische Diagnosenspiele vortäuschen, versagen und sich ganz seinem Engel überantworten. Die Engel sind auch die Aufrechterhalter des kosmischen Gleichgewichts; sie helfen einem, sich im Sinne der Acht einzustimmen, wie ja auch im Rad ihr Ort mit den Edelgasen der Sonne und den inneren Signalen des Fühlens identisch ist.
  10. Im Nordosten ist das Empfinden, das Wachen, die Gestaltungsfähigkeit. Man erreicht sie nur, wenn man es nicht selbst machen will sondern den Musen vertraut. Makrokosmisch sind es die neun Planeten, mikrokosmisch die neun Elementegruppen und mesokosmisch ist es die Struktur der Sprache. Allein mit ihrer Hilfe gedeiht das Werk und man entrinnt den negativen Emotionen, den falschen und überflüssigen Leiden.
  11. ist der Mensch im All, immanent der Tierkreis, transzendent die Stimme, die ganzheitlich aber als alle neun Impulse hörbar wird. Der Tierkreis ist die Fläche der Planeten, wo sie um die Sonne kreisen und gleichzeitig die Bahn der Sonne im Verhältnis zum Fixsternhimmel. So ist die letzte Stufe der Zehnhaftigkeit der Chakras in den ptolemäischen Raumschalen vom Mond über die Sonne bis zum Pluto zu begreifen. Nur als kosmisches Individuum wird es möglich, Ich und Selbst zum Wesen zu integrieren. Die Ordnung der Bahnen verläuft folgendermaßen:

    H i m m e l s l e i t e r

    Jede der Bahnen mit den Planeten als Signifikator in seinem Heim im Tierkreis hat einen anderen Zeitlauf. Zwar bewegen sich Merkur und Venus innerhalb der Sonnenbahn, sind also astronomisch auf diese bezogen und erst ab Mars haben die Planeten eine längere Umlaufszeit. Die ptolemäische Folge der Planeten ergibt sich daher aus den Bogengraden und Minuten.

Arnold Keyserling
Das magische Rad Zentralasiens · 1993
Schlüssel der Urreligion
© 1998- Schule des Rades
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