Schule des Rades

Arnold Keyserling

Das magische Rad Zentralasiens

VI. Meisterspiel

Haus der Arbeit der Menschheit

Die Wassermannzeit ist das VI. Haus der Arbeit der Menschheit. Aus diesem Grund ist die Problematik der Wirtschaft in den Vordergrund getreten, denn nur jener, der die seelische Unabhängigkeit erreicht hat, kann ohne unnötiges Leiden für die Mitarbeit am Werk eintreten.

In dieser Epoche ist plutonisch das VI. Haus im Krebs. Wir sind also auf das Überleben, das Verständnis des Mondes gerichtet. Daher tritt die älteste Tradition der Erkenntnis der Parameter von Raum und Zeit und die Problematik der Familie in den Vordergrund.

In einer Zeit der Wandlung ist es schwer, die Kriterien des Neuen zu begreifen, ohne in das Alte zurückzufallen. Fischezeit war Reichsgesellschaft. Sie war auf dem Strebenden begründet, die in Nachfolge eines Heiligen die irdische Welt zum Abbild einer vermeintlich himmlischen machen wollten. Dies lehrt die orthodoxe Kirche; die irdische Hierarchie sei der Spiegel der göttlichen mit Christus als Kosmokrator, der als Gegenpol des byzantinischen Basileus verstanden wurde.

Mit dem Mittelalter, dem Universalienstreit zwischen Nominalisten und Realisten in Paris, wurde die Esoterik verlassen. In der Universität war jede These ein möglicher Weg zum Göttlichen, mittels einer verschiedenen Interpretation der Wahrheit. Bei den Realisten war die Wahrheit im Geist Gottes, also in den Gattungsbegriffen, den platonischen Ideen. Man erreichte die Unsterblichkeit durch Teilhabe an diesen, im Einklang mit dem Johannesevangelium. Bei den Nominalisten war die Wahrheit die verifizierte Meinung der Wissenschaft. Sie stützten sich auf die Aussage des alten Testaments, dass Gott alle Wesen vor Adam brachte, damit er sie benenne, und diesen Namen sollten sie fortan tragen.

Für beide liegt das Himmelreich, die Neue Erde zeitlich nach dem Jüngsten Gericht. Auf der Erde müssen wir den Heiligen oder Pionieren folgen. Der Nachthimmel der unmittelbaren Vision war wie in China mit dem Übergang von der Schang- zu der Choudynastie durch den paternalistischen Taghimmel ersetzt worden.

In Europa prägte das akademische Leben über die Ideale Schönheit, Wahrheit und Gerechtigkeit die Kultur. Das Ich hatte das Selbst überall verdrängt; die Selbsterlösung ist im Abendland seid der Verdammung des Origenes im fünften Jahrhundert verpönt, und das Abendland prägt seit dem Kolonialismus und den letzten aus dem Widerstreit gewonnenen Ideologien — dem realistischen Kommunismus und dem nominalistischen Kapitalismus — die Öffentlichkeit in allen Staaten der Welt.

Da beide ihre religiöse Zielsetzung verloren haben und nur noch als Strategien besseren Überlebens betrachtet werden, mussten sie als ideologischer Überbau zusammenbrechen. Das geschah für den Osten im Marsjahr 1989 und wird sich im Westen in den Neunzigerjahren vollziehen.

Ideologien existieren nicht mehr außer in den Köpfen jener, die keinen Zugang zum Selbst finden. Die antiakademische Kulturrevolution mit dem Höhepunkt im Neptunjahr 1968 hat den endgültigen Bruch der geistigen Kontinuität vollzogen. Der jupiterische Persönlichkeitskult wird im Westen und Osten gleichermaßen verdammt.

Autorität existiert nur ungefragt. Sobald man beginnt sie zu kritisieren, verliert sie ihre Macht, wie das Symbol des Kommunismus mit dem jupiterischen Hammer und der saturnischen Sichel treffend veranschaulicht hat. Im gleichen Jahr 1968 brach aber in Amerika die tatsächliche Gegenbewegung durch, getragen vom Human Potential Movement, dem New Age und der Anerkennung der experimentellen esoterischen Religion als geistiger Demokratie, durch welche der Nachthimmel durch Kenntnis der verdrängten Tradition wieder zugänglich wird. Jeder glaubt seinen eigenen Weg zu finden oder finden zu können. Die Tabus der Sexualität der Astrologie schwinden, der Schamanismus wird zur Massenbewegung. Durch die technologische Revolution der Computer erfährt sich der Einzelne als Spieler. Alle traditionelle Hierarchie wird als tierische Projektion entlarvt. An die Stelle der senkrechten, als Spiegelbild des Himmels gedachten Aufstiegsordnung mit der Forderung des Gehorsams gegenüber dem Bekenntnis tritt die persönliche Sinnfindung.

Die Weltreligionen erweckten das Ich als einzigen Weg zu Gott, setzen aber vor der Auferstehung das höchste Gericht und das ungreifbare Mysterium. Alle Esoteriker, die in den letzten Jahrtausenden die Wahrheit suchten und fanden, mussten vorsichtig im Untergrund wirken. Doch die innere Wahrheit, im biblischen Mythos die Weisheit vor der Verwirrung der Zungen durch den Turmbau zu Babel, lebte in kleinen Kreisen fort. Sie bedurfte keiner Tradition und Organisation, weil jeder sie aus eigenem Streben erkennen kann, auch wenn er keinen Zugang zu den Schriften hat.

Im Judentum waren die Träger der Esoterik die spanischen Kabbalisten; im französischen Compagnonage der Handwerker die Stufen von Lehrling, Geselle und Meister, bei den Sufis die Bruderschaften, bei den Persern die Ritter, bei den Indern die Yogis und einzelnen Mystiker, die nie bekämpft wurden. Die drei intimen Koordinaten Gottes — die ewige Stimme im Feuer, der Mensch im All als Urbild im Tierkreis, die neun Ziffern mit der Null als Wirkweisen Gottes — konnten in kleinen Kreisen weitergetragen werden.

Als die politische Macht der Inquisition zu stark wurde, um Schulen zu ermöglichen — jeder der einen Häretiker mit Erfolg denunzierte, bekam dessen Besitz zugesprochen — fand im Hochmittelalter 1299 eine Gruppe in Venedig einen Weg, das Wissen gefahrlos zu übermitteln: durch das Erfinden des Kartenspiels; nicht des Tarot, der erst im 15. Jahrhundert als Wahrsagetechnik entstand, sondern durch Schaffung der ganz normalen Spielkarten, mit denen man öffentlich im Wirtshaus das Wissen vermitteln konnte ohne Gefahr zu laufen, dass Feinde es merkten.

Merkur ist Hermes Trismegistos; der Dreimalgroße, der das Wissen der Wahrheit aller drei Welten, Mikrokosmos, Mesokosmos und Makrokosmos — besitzt und ein echter Sohn Gottes ist, der aufhört, die Sprache sich selbst oder einer Gruppe zuzuschreiben, sondern wartet, bis sie sich ihm nach Maßgabe seiner Entwicklungsstufe offenbart.

Die hermetische Weisheit ist erreichbar, wenn man die Materie erkennt. Sie ist gleichzeitig Weg der Läuterung und Magnum Opus. Da die Übertragung mündlich war, und jeder der sich damit beschäftigte, in Lebensgefahr schwebte, ist es erst in jüngster Vergangenheit Pierre Riffard gelungen, die Geschichte der Esoterik nachzuzeichnen. Aber mir geht es nicht um die Geschichte, sondern um die praktische Anwendung dieses Wissens, um es als Gegenpol des wirtschaftlichen Lebens der persönlichen Offenbarung zugänglich machen. Ich verwende die Karten der Intention nach wie die mittelalterlichen Handwerker, aber bestimme und deute sie nach den Grundbegriffen und Inbegriffen des Rades.

Das Gesetz der Natur ist die Resonanz und fraktale Skalengleichheit, die Kombinatorik. Urbild der Resonanz ist die Musik und die Oktave, Urbild der Skalengleichheit das Yin-Yang-Zeichen. Der Mensch kann die Schwelle der negativen Erwartungen überwinden, wenn er in das freie Spiel des Löwen kommt und sich plutonisch selbst entwirft. In unserer Zeit steht keine Sehnsucht nach Erlösung mehr im Vordergrund — die materiellen Lebensbedingungen sind virtuell gemeistert — sondern die Öffnungen zu Gott und zur Offenbarung durch das divinatorische Meisterspiel.

In den Vedas heißt es: von den vier Welten kennt der Durchschnittsmensch nur eine. Erst wenn er die drei anderen integriert hat, erreicht er die Befreiung und Unsterblichkeit. Durch die Bewusstseinsforschung im Zusammenhang mit der Naturwissenschaft wissen wir heute, dass diese Behauptung stimmt. Wachen, Vorstellung, Traum und Schlaf sind verschiedene Bewusstseinszustände: Wache ich, dann träume ich nicht; schlafe ich, dann sind die Assoziationen der Reflexion ausgeschaltet. So kann das Bewusstsein niemals die Ganzheit erreichen: sie offenbart sich nur, wenn das Gewahrsein sich mit der Kraft der Selbstorganisation im Wollen vereint; wenn also der Schlaf der Aufmerksamkeit weicht und sich die Bewusstheit in das vierfältige Gewahrsein verwandelt.

Die Reflexion des Denkens ist kausal ausgerichtet, sie geht vom Bestehenden aus. Die Selbstorganisation, die das Wollen, die Wahl und die Entscheidung speist, ist final ausgerichtet. Sie kann nur im freien Spiel des Daseins verwirklicht werden.

Arnold Keyserling
Das magische Rad Zentralasiens · 1993
Schlüssel der Urreligion
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD