Schule des Rades

Arnold Keyserling

Das Nichts im Etwas

3. Philosophie

Nichtwissen

Im zehnten vorchristlichen Jahrhundert waren die Mythen durch ihre Verwandlung in epische Dichtung, Ilias und Odyssee, fragwürdig geworden. Die Götter schienen menschliche Projektionen, und das rationale Ich — die Sphäre von Seele und Denken, deren Rolle im REM-Schlaf die Wiederherstellung des mentalen Gleichgewichts ist — wurde zum Schwerpunkt aller Überlegung. Damit begann in Griechenland die Entfaltung der Philosophie, die sich zur Aufgabe setzte, sprachlich das echte Wissen von der bloßen Meinung zu trennen, um eine sichere Basis für das Denken als Weg zur Wahrheit zu finden. Im Mythos erreichte nur der Held die Unsterblichkeit, weil er im Unterschied zum Durchschnittsmenschen das Wasser der Lethe — des Vergessens — nicht nach dem Tode trinken musste. Dieses Nichtvergessen als Unsterblichkeit wurde zum Begriff der Wahrheit, Aletheia: das was immer wahr ist. Die Vorsokratiker, die Sophisten, Sokrates, Platon und Aristoteles, hatten folgendes bewusstes Programm:

  1. Verwandlung des Mythos in den Logos, der gestalthaften Rede in die nachprüfbare.
  2. Verwandlung des Chaos in den Kosmos, der Vielfalt der Mythen in einsichtige und nachprüfbare menschengemäße Wahrheit. Kosmos heißt auch Mensch; Mikrokosmos und Makrokosmos schließen nicht von den Atomen und den Sternen auf den Menschen, sondern verstehen umgekehrt durch Analogie mit der menschlichen Gestalt den Tierkreis und die Welt der Atome.
  3. Verwandlung von Meinung, Doxa, zu der nun auch die Mythen gerechnet wurden, in Episteme, verstandenes Wissen.

Für den antiken Griechen war Mythos religiöse Wahrheit. Kerényi sagt: der Grieche geht vor einer Handlung einen Schritt zurück, um im Mythos ein Vorbild zu haben, damit seine Handlung dramatisch werde und nicht banal verflache. Während in allen anderen Kulturen das Denken verachtet war als bloße Tätigkeit der Kaufleute, erhoben es die Griechen in der Philosophie zum Weg zur subjektiven Wahrheit.

Zwischen Thales und Sokrates wurden alle möglichen Ansätze des Denkens durchgespielt. Thales entwickelte die geometrische Intuition;

  • Anaximander die Dialektik und Arithmetik.
  • Anaximenes postulierte, dass alle Qualitäten als Quantitäten verstanden werden müssen, um denkbar zu sein.
  • Pythagoras schuf aus der Musik das Gebäude der Mathematik.
  • Xenophanes erfand den Begriff des Naturgesetzes, das bleibend dem Wandel zugrundeliegt;
  • Heraklit bestimmte den Zusammenhang zwischen dem Werden, dem Feuer und der Seele.
  • Parmenides und Zenon entwickelten die Logik.
  • Empedokles schuf die philosophische Begründung der Medizin in Anknüpfung an Asklepios; die vier Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft in ihrer Entsprechung als vier Temperamente unterliegen entweder dem Impuls der Liebe oder dem Streit.

Aufgabe des Philosophen ist, den Menschen zur Liebe und damit zur Heilung zu führen. Anaxagoras bestimmt des Unendlichen als Grundlage der Vernunft, und schließlich Demokrit und Leukipp schufen die Atomtheorie, dass nämlich die Welt sich analog zur Sprache als aus Elementen gefügt verstehen lässt.

Die Sophisten erfanden die Pädagogik, den Nutzen des Denkens für das praktische Leben, und lehrten diese gegen Entgelt. Sie schufen die vier Vulgärphilosophien, die auch heute noch von den meisten Menschen vertreten werden.

  • Protagoras erkannte den Menschen als Maß aller Dinge,
  • Hippias erfand die eklektische Methode,
  • Gorgias begründete die Skepsis und den Nihilismus,
  • und Prodikos den Moralismus.

Damit drohte die Philosophie wieder in das materielle Leben abzusinken und ihre Geschichte wäre zuende gewesen, hätte sie nicht Sokrates zu neuem Leben erweckt.

Sokrates bestimmte Philosophie als menschlichen Weg in der Kultur. Platon schilderte deren Zusammenhang anstelle der Traditionen in seinen Dialogen, und Aristoteles löste in seiner Metaphysik die Kultur zur gänze aus der mythischen Überlieferung, um sie als Gebäude des Wissens objektiv zu begreifen, als ein Gehäuse, darin der Mensch zur Reife erwächst.

Dieses Gehäuse verlor im Laufe der Jahrhunderte, vor allen Dingen bei den Stoikern und Epikuräern seinen Bezug auf die Transzendenz, auf das Göttliche, und damit wurde die entscheidende Rolle des Sokrates vergessen bzw. falsch interpretiert. Als Gegensatz bildete sich die aristotelische Fassung

  • des nominalistischen Wissens —
    alles Wissen stammt aus Erfahrung und ist in den Menschen verkörpert die es vertreten, und die Worte haben keine transzendente Bedeutung
  • und das realistische Wissen —
    der Schatz des menschlichen Wissens ist auf ewige Urbilder, Paradigmen bezogen, die unabhängig vom Einzelnen existieren, und der Einzelne findet seinen Wert in der Geschichte über die Mitarbeit am Schatz des kollektiven Wissens.

Der letzte Ausspruch des Sokrates vor seinem Tode war: O Kriton, wir sind dem Asklepios einen Hahn schuldig, entrichtet ihm den, und versäumt es ja nicht. Kriton: Das soll geschehen, sieh aber zu, ob du sonst noch etwas zu sagen hast. Als Kriton dies fragte, antwortete er aber nicht mehr, sondern bald darauf zuckte er, und der Mensch deckte ihn auf (der Wärter). Da waren seine Augen gebrochen (Phaidon).

Hahn bedeutet in der Mythologie das Verkünden der Wahrheit, sowohl chinesisch als auch christlich. So versuche ich in Folgendem, diesen Auftrag zu erfüllen, indem ich nicht den Sokrates als Vorläufer des Platon und Aristoteles im Sinne der bürgerlichen Philosophie mit ihrer Sehnsucht nach gesichertem Wissen betrachte sondern ihn beim Wort nehme als jenen, der den Weg des Wissens als stete Suche nach dem Sinn, dem Nichts im Etwas, erkannt und verwirklicht hat.

In der schamanischen Überlieferung bedarf der Mensch zweier Meister: des Lehrers und des Wohltäters; für Castaneda Don Juan und Don Genaro. Beide stehen in der Tradition, die sie nicht in Frage stellen.

  • Die Aufgabe des Lehrers ist, die Welt des Tonal, die linke Hälfte der Gehirnfunktion zu beschränken, damit die rechte durchbrechen kann,
  • und die Aufgabe des Wohltäters ist, den Menschen aus der Blase der Reflexion zu befreien, ihm den Weg zu dem Nagual freizukämpfen und ihm bei den ersten Schritten zu helfen.

Beide Weisen sind nur der praktischen Bemühung zugänglich. Bei Sokrates aber wurde das Wort und das Verstehen zum gemeinsamen Nenner der beiden, und sollte sowohl zur Befreiung als auch zum Weg des Wissens über Anamnese und Maieutik führen.

Sokrates nahm seine Herkunft als Paradigma seiner Arbeit. Sein Vater war Bildhauer, seine Mutter Hebamme.

  • So ist es Aufgabe der Anamnese, der Bildhauerkunst, die verborgene Gestalt aus dem Stein zu befreien, das verborgene Wissen zu entschleiern,
  • und Maieutik, die Hebammenkunst, bedeutet, die vermeintliche Sicherheit des Ich’s durch Dialektik und Ironie, Erweis des Nichtwissens der Tugend, zu zerstören und damit den Menschen zu seinem Sinn zu führen, der niemals vorgegeben ist, sondern immer von Augenblick zu Augenblick aus der Spontaneität heraus ermittelt werden muss.

In den platonischen Dialogen ebenso wie in der weiteren Geschichte der Philosophie ist die sokratische Intention verloren gegangen, sie wurde im falschen Sinne als mythisch, als metaphorisch betrachtet. Durch Kenntnis der Stufen des Asklepiosmysteriums können wir die sokratische Methodik aus ihrer falschen Interpretation lösen.

Sokrates hatte das Äußere eines Silens, eines dionysischen Mystagogen, und die Einstellung des auf Klarheit gerichteten Apollinikers, der den Wahn in Wirklichkeit verwandelt. Im Mythos fand der Held — Herakles, Theseus, Perseus — seine Richtung durch das Orakel von Delphi, das ihm wies wie er seine Verfallenheit sühnen könne und seinen Weg erreiche. Herakles zum Beispiel wurde wahnsinnig infolge seines Mords am König Pyraichmos, den er aus Eifersucht von Pferden zerreißen ließ, da er beim Rennen schneller gelaufen war als er selbst. Durch die zwölf Arbeiten beim König von Tyrens auf Weisung des Orakels, von denen jede ihn in Lebensgefahr brachte, konnte er den Wahnsinn überwinden.

So wollen wir nun versuchen, den Weg der sokratischen Anamnese und Maieutik an Hand der Stufen des Asklepios zu beschreiben, ohne auf die platonische Ordnung der Dialoge einzugehen, bei denen sich sokratische Dialektik und platonische Dichtung vermischt haben.

Der Einstieg ist die Verteidigungsrede des Sokrates vor dem Areopag, als dieser wegen Unfrömmigkeit angeklagt wurde: er erfinde falsche Götter und verderbe die Jugend. Seine Rechtfertigung lautete, er handle aus echter Frömmigkeit und verführe die Jugend nicht, sondern befreie sie, da er sie aus falschem Wissen erlöse und zur wahren Tugend bringe.

Zum Anstoß seines Glaubens wurde die Antwort des Orakels von Delphi auf die Frage eines seiner Schüler, wer weiser als Sokrates sei: Sokrates, der weiß, dass er nicht weiß, ist der weiseste aller Griechen. Somit ist die Suche des Nichtwissens, oder wie Gustav Meyrink es formulierte: Nicht mehr wissen, alles können also der Weg der Mystik, das Anliegen der sokratischen Philosophie. Fortan sah er es als seine Aufgabe, alles vermeintliche Wissen zu überwinden. Die innere göttliche Stimme, sein Daimonion, sagte ihm immer nur, wenn etwas falsch war, nie aber etwas Richtiges voraus; dieses sollte er selbst finden. Auch warnte sie ihn vor Unglück und Unfall. Da sie ihn aber nicht vor der Gerichtsverhandlung gewarnt hatte, bei der er zu Tode verurteilt wurde, konnte auch dieses Urteil nicht etwas Böses für ihn bedeuten, sondern die Erfüllung eines guten Schicksals.

Für Sokrates ist Gott jener der fordert, dass kein Wissen den Weg zu ihm verstelle. Das steht im Einklang mit der indischen Behauptung, Brahman sei jenseits von Name und Form, oder dem jüdischen Postulat, man solle sich kein Bild und Gleichnis vom Göttlichen machen. Damit wird das ewig erneute Erreichen des Nichts im Etwas und der Gehorsam gegenüber der inneren Stimme die Voraussetzung eines religiösen Lebens.

Sokrates ist das Urbild des individuellen Menschen, der ohne Unterordnung an eine geistige Tradition, die von anderen geschaffen wurde, seinen Weg zum ewig Unbekannten geht, indem er das Nichtwissen zum Kern seines Bewusstseins erhebt und damit das Gefängnis des Ichbildes sprengt. Somit ist die eigentliche Zeit des Verstehens der sokratischen Philosophie erst heute gekommen, da tatsächlich Demokratie als Ablehnung aller Abhängigkeit zum Postulat aller Menschen geworden ist, und gleichzeitig die Technologie die menschliche Umwelt so verändert, dass jede wiederholbare Tätigkeit — die den Menschen an ein Wissen fixiert — fortan von Maschinen geleistet wird. Dem Einzelnen bleibt nur noch die spontane Selbstprogrammierung, die Schaffung des persönlichen Lebenssinnes als Weg.

Durch die Gliederung der sokratischen Lehre nach den Stufen des Rituals wird es uns gelingen, die Maieutik als aktive Mystik zu begreifen und die falsche Interpretation zu beseitigen — so glauben manche Interpreten, Sokrates habe die Tugend für lehrbar gehalten, wo sich doch alle seine Gespräche gegen diese Auffassung richten.

Arnold Keyserling
Das Nichts im Etwas · 1984
Mystik der Wassermannzeit
© 1998- Schule des Rades
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