Schule des Rades

Arnold Keyserling

Das Nichts im Etwas

3. Philosophie

2. Seele - denken: REM

Tugend bedeutet einerseits seine Anlage zu erkennen und zu verwirklichen, andrerseits Gerechtigkeit als Würdigung und Förderung anderer anzustreben. Wer nur in der Welt des Wachens lebt, der wird glauben, dass die Weisheit als Weg des Wissens mit seiner Kunst etwas zu tun habe. Das war die Gefahr der Weisheitslehrer, der Sophisten, die allesamt behaupteten Tugend lehren zu können.

Sokrates beweist seinen Gesprächspartnern durch die Mittel des Denkens, dass keine Kunst den Zugang zum Sinn und zur Tugend einbegreifen kann. Das Gute, das Schöne, das Wahre sind nicht inhaltlich zu bestimmen, sondern nur komparativ:

  • Jedes Schöne zeigt den Weg zur weiteren Vollendung,
  • jede erkannte Wahrheit führt zu einer neuen Fragestellung,
  • jede als gut bestimmbare Handlung weist auf ein neues Gebiet,
    das noch aus der Liebe ausgeschlossen ist.

Lehren ist berechtigt, sobald es um ein Handwerk geht. Doch Denken ist die eigentlich menschliche Fähigkeit, die jeder einzelne bereits aus seinem Dasein vor der Geburt mitbringt und die es in der Anamnese aufzudecken gilt. Logik und Mathematik, Maß und Zahl bilden die Kriterien, um falsche Substanzen zu überwinden. In der Dialektik verwendet Sokrates die Bestimmung eines Wortes, damit man weiß, worüber man spricht; ferner die denkerische Definition, die eindeutig ist und deren Gegenteil sich als falsch erweist. So ist im platonischen Beispiel der Kreis als Bestimmung eine runde ebene Fläche mit Mittelpunkt, definitorisch aber die Summe aller Punkte auf einer Ebene, die sich in gleicher Entfernung von einem Punkt befinden. Als Drittes ist aber keine der denkerischen Formen, der Urbilder oder Paradigmen, in der Welt ganz darzustellen: ein an die Tafel gezeichneter Kreis hat in der Linie des Umfangs eine fälschliche Ausdehnung. Daher müssen wir im Unvollkommenen das Vollkommene erschauen, durch die Technik der Mimesis; die Welt ahmt die Paradigmas der Ideen nach.

Die Mitte der Seele wird existentiell in dem Augenblick erreicht, da der Mensch versteht und vom Problem befreit ist. So zeigt sich, dass die Mitte des Wesens, die Ousias oder Substanz, nicht mit dem Gedanken identisch ist, sondern in der Begeisterung empfangen wird. Enthousiasmos lässt sich etymologisch auch so bestimmen, dass ein Mensch in seiner Ousia, seine Teilhabe an den Göttern, eindringt

Das Wort ist das Mittel — so zeigt Sokrates im Dialog Kratylos — um in die Begeisterung, zur Tugend vorzustoßen. Im Wort kann man auch die Götter anrufen. Doch ist wahrscheinlich, dass die Götter nicht jene Namen tragen, die wir ihnen zulegen. Vielleicht hören sie uns aus Freundlichkeit an, weil sie wissen, dass sie mit der Anrufung gemeint sind. Aber unschwer lassen sich die griechischen Götternamen als Eigenschaften bestimmen, die wir hinter den Kräften vermuten.

Hierbei ist es etymologisch gleichgültig, ob die Begriffe historisch oder zufällig gebildet wurden; sie weisen auf eine substantielle Sphäre, die wir aufdecken können, die also vor uns existiert.

Arnold Keyserling
Das Nichts im Etwas · 1984
Mystik der Wassermannzeit
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD