Schule des Rades

Wilhelmine Keyserling

Das Nichts im Etwas

Das unterscheidende Bewusstsein

Atem

Die Slokas beginnen mit dem Atemgewahrsein. Wenn der Körper den Ausgleich zwischen Entspannung und Spannung lassen und halten — gefunden hat, kann der Atem ruhig strömen, die Aufmerksamkeit, die wunderbarste Kraft des Menschen, kann sich dem Atemstrom zuwenden. Wenn sie diesem Fließen bis an sein Ende folgt, landet sie im Nichts, der Pause, das die Fülle des Unerschöpflichen birgt.

Der verstorbene Physiker Bentov hat beschrieben, wie das Pendel sich mit kinetischer Energie bewegt, aber im Augenblick des Wendepunkts, des Stillstands, außerhalb der Zeit ist — also in der potentiellen Energie.
Diese Nahtstelle kann über den Atem erlebt werden.
Aber wer kann sich dem Atemstrom, der ein feineres Etwas ist, so vollständig zuwenden, dass er tatsächlich im Nichts landet? Wir Sterbliche kommen immer über das Etwas zum Nichts. Dieses Etwas, das uns im Leben auf mannigfaltige Weise bewusst wird, ist unser Sprungbrett, bis das ganze Leben zum Anlass wird. Es muss uns aber die Notwendigkeit solch totaler Zuwendung bewusst werden. The warrior has unbending intent sagt Don Juan zu Castaneda. Diese Aussage lässt sich nicht in ihrer vollen Kraft übersetzen. Ich sage oft zu meinen Schülern: tut es, als ob euer Leben davon abhinge — und wiederum, als ob das Leben keinen Wert hätte.

Meine Motivation muss zur unbeugsamen Intention werden, aber ich darf es auch nicht zu wichtig nehmen, sonst habe ich nicht die nötige Gelassenheit. Der Leiter einer Meditationsgruppe muss seine Teilnehmer motivieren können. Wie macht er das? Ich glaube, indem er selbst voll und ganz in das Geschehen einsteigt. Diese Einstellung verbreitet eine Schwingung, die sich mitteilt, wenn überhaupt eine Empfänglichkeit vorhanden ist.

Dann muss man den Weg von der grobstofflichen zur subtileren Wahrnehmung gehen. Zuerst spürt, riecht, hört man den Atem in seiner sinnlichen Qualität und seiner Dauer: denn Atemstrom ist meine Zeit. Je genauer ich hineinhöre, desto feiner und gleichmäßiger wird das Strömen. Ich tue nichts, sondern überlasse das Atmen ganz dem Körper — der Weisheit des Körpers. Der feinste Atem ist der wirksamste; er wird intensiv assimiliert. Und ich weiß, dass der Atem Substanzen enthält, die meinen unsichtbaren Körper, mein Bewusstseinsfeld aufbauen. Und dieser unsichtbare Körper im Körper ist es vor allem, der Kraft braucht, damit er nicht auseinanderfällt, damit er zusammenhält, sich entfaltet. In diesem Körper wohnt der Zeuge, und dieser Körper erfährt die Urkraft, ist mit dem All verbunden.

Aber immer setzt die Erfahrung des zweiten Körpers am Geschehen des fleischlichen an — geht von ihm aus ist mit ihm eng verbunden. So kann ich in der Rückenlage, der Totenhaltung, des feinen Steigens und Sinkens der Bauchdecke genau gewahr werden, mich von der Bewegung tragen lassen, wie ein Blatt auf einer zarten Welle. Zuerst nehme ich steigen und sinken des Atems (Bauches) wahr — dann erfahre ich steigen und sinken an sich. Wohin diese Erfahrung führt, was mein Bewusstsein damit anzufangen weiß, kann keiner voraussagen. Ich kann von dieser, meiner körperlichen Wirklichkeit in eine andere umsteigen, muss aber immer mit ersterer verbunden bleiben, sie von allen anderen unterscheiden können.

In der 1. Gewahrseinsübung wird die Verschiedenheit des Vorgangs steigen — sinken bewusst. Das Nichts dazwischen bleibt das Gleiche.
Der 2. Sloka geht vom Gegensatz des Empfangens und Gebens aus, von der Beziehung innen — außen, die der Atem verbindet, vom In-mir und dem Überall, der letztlich im Paar des Nichts, in Urkraft-Urlicht Einung findet. Viele Möglichkeiten gibt es, dieses Ausströmen und Zurückkehren des Atems zu betonen; vielfältig sind die Erfahrungen des Atems und jedesmal sind sie anders und neu; wer kommt da an ein Ende?
Der 3. Sloka weist darauf hin, dass nicht nur in den Wendepunkten, dem Stop, das Ursprüngliche bewusst werden kann, sondern auch im Strömen selbst das ewig Bestehende im Wandel an-wesend ist. Es ist das da-Sein im Vergehen.
Der 4. Sloka erscheint so einfältig, dass nur der Übende seinen Reichtum entdecken wird.
5 beschreibt eine der vielen Übungen, in denen der Atem durch die Senkrechte, die Wirbelsäule geführt wird. Was heißt das?

Zuerst spürt man den Atem in seiner sinnlichen Qualität, seiner Dauer. Dann verwendet man das Strömen als Gefährt der Kontinuität der Vorstellungskraft. Im einströmenden Atem lässt man einen Lichtstrahl feinster Art im Inneren der Wirbelsäule — wo tatsächlich die Leitung der unsichtbaren Kraft verläuft — vom Muladhara Chakra zum Sahasrara aufsteigen. (Im Ausatmen wird man den Lichtstrahl entlang wieder ins Muladhara sinken und damit fortfahren, bis…) Im Scheitelchakra, das Lichtempfänger ist, begegnet dann die Vorstellung des Lichtes dem Urlicht selbst.
Im 6. Sloka steigt man mit dem Meditationsatem (er ist nicht mehr erwähnt) von Chakra zu Chakra. Ich gebrauche oft das Bild der Flöte mit sieben Löchern. Sieh dich wie eine Flöte, durch die der Atem Gottes auf und nieder braust. Die Flöte ist ein schönes und der Wirklichkeit entsprechendes Bild.

Wenn jemand in der Gruppe gegen den Begriff Gottes allergisch ist, weil er vielleicht von einer frömmelnden Tante erzogen erzogen wurde, dann ist es eben der Hauch der Schöpfung, der durch die Flöte fließt. Ich bin nicht verlegen im Benennen von jenem, das sowieso jenseits von Name und Form west.

In jedem Zeitalter soll dafür ein neuer Name gefunden werden. Name ist aber wesentlich, um die Kraft der Intention, die Einstellung zu finden, die Richtung anzupeilen. Auch Himmelsrichtung ist genau zu messen. Wohin sie führt? Ins Unendliche. Unbeschreiblich ist das Zukommende, in das sie mündet. So müssen wir exakt vorgehen, um das Unfassbare einzufangen. Das größte Abenteuer ist das Spiel Nichts-Etwas.

Man mag also im einströmenden Atem in das nächste Chakra hochfahren, um mit dem ausströmenden ganz in dieses einzugehen, und so fort. (Im Abstieg wird man im ausströmenden Atem sinken, im einströmenden im jeweiligen Energiekreis verweilen.) Man kann natürlich auch mehrere Atemlängen an jedem Ort verweilen; wichtig ist nur, dass man nicht daran denken muss. Dem tatsächlich Meditierenden ist die leibliche Eigenschaft seines Körpers vollständig unbewusst. Er kann sie natürlich aus der Unbewusstheit jederzeit hervorholen. Wenn er allein meditiert, ist sein Zeuge der Führer. Er hat zuerst, als er sich zur Meditation setzte, den Körper zur Gänze im Gewahrwerden ergriffen, bis ihm die Körperform so genau bewusst geworden ist, als habe er sie im Geiste wiedererschaffen. Tatsächlich könnte er leiblich aufstehen, oder längst verstorben sein, und die Körperform als Kraftfeld sitzend hinterlassen.

Es gibt ein Bild der indischen Heiligen Ananda Moi, das ihren geliebten Schüler in seiner gewohnten Kleidung hinter ihr stehend zeigt. Als dieses Photo entstand, saß er mit anderen vor ihr am Boden. Sein kinästhetischer Körper, der Unsichtbare, wurde am Bild sichtbar.

Der Meditierende schafft also seinen kinästhetischer Körper. Dann braucht er sich um diesen nicht mehr zu kümmern, und wendet sich dem Atemstrom zu. Dann nimmt er diesen als Gefährt, das Atmen selbst wird unbewusst, und er wendet sich dem Aufsteigen und Verweilen in der leeren Bahn seiner Flöte zu. Wenn sein Bewusstsein wirklich in die Senkrechte eingeht, sind Größenordnungen aufgehoben. Er mag sich in ungeahnter Weite befinden, die Chakren als aufblühende Knospen erleben — vielleicht erfährt er Blitz auf Blitz bis zum Großen Erwachen.

Die zwölf Mantras, auf die im 7. Sloka Bezug genommen wird, kenne ich nicht. Die Stufen vom Groben zum Feinen und Feinsten, bis zum Einenden Einen, wurden mir über die Meditation der Silbe Om erfahrbar.

Wenn der Meditationsatem strömt, wird er zum Gefährt des Om. Man atmet nicht mehr Luft (im Bewusstsein), man atmet das Om ein und wieder Om aus. Zuerst denkt man das Om auf grobsinnlicher Ebene, wie man Besenstiel denkt. Dann wird er zum Lautbild. Dem Meditierenden wird beim ersten Versuch die Weisung gegeben: Höre, spüre, schmecke jede einzelne Schwingung dieses O, dieses M. Hier müssen aktiv und rezeptiv in Ausgleich gebracht werden. Ich muss gleichermaßen Zuhörer und Erzeuger des Geschehens werden.

Nachdem das Aktive im Denken meist vorwiegt, kann ich mich ganz auf das Rezeptive besinnen; dann bin ich Zeuge. Von da an gibt es keine Bemühung mehr. Den Schritt vom groben Hören der Silbe zum feineren Wahrnehmen jeder einzelnen Schwingung habe ich gemacht. Nun schaltet es von selber um in ein noch subtileres Erfahren dieser zwei kosmischen Urschwingungen O und M, die eines ins andere überfließen, ineinander enthalten sind.

Bis zur Schwelle der Einung hat mich damals meine Konzentration gebracht — aber mein Staunen holte mich vom Zeugen wieder in mein Ich zurück. Der Zeuge ist wohl einer anderen Art des Staunens fähig, die ihm weitere Erfahrung eröffnet.

Auch dem 8. Sloka entspricht eine bestimmte Meditationstechnik. Jeder Mystiker hat andere Weisen entwickelt, um den Vorgängen, die zu seiner Allerfahrung führten, nachzuspüren und sie zu vermitteln. Aber wie wir in der Einführung lesen, genügt es, am persönlichen Weg, ein einziges Tor auszubauen, um zum Ursprung durchzustoßen. Manche Schulen versuchen über Tonmeditation den Urlaut zu vernehmen, andere sind der Lichtmeditation zugewandt. Nachdem Urlicht und Urkraft letztlich in das Heilige Einende Eine münden, führen wohl viele Wege dahin. Freilich ist in der Wassermannzeit, der Zeit der Fülle, der persönliche Weg nicht das einzige Anliegen. Man will die Landkarte, den Globus kennen, um vom Gesamten auszugehen. Nicht nur leiblich fährt man nach Indien und Hawaii, auch geistig ist der Mensch bestrebt, ein weiteres Feld zu bestellen, den gemeinsamen Nenner aller Wege und Methoden zu verstehen.

Im 8. Sloka ist der Einstieg das dritte Auge. Es ist der Zugang zur Allseele. Auf gleicher Ebene liegt das Ajna Chakra. In der Rückenlage berühren die Chakren 2, 4, 6 den Boden. Bei diesen Dreien ist die Zweifältigkeit des Empfangens im Rücken, des Auswirkens nach vorne, besonders deutlich. Der Ajnabereich ist der Zugang zum Geist (rückwärts) aller Seelen (vorne, drittes Auge).

Wenn ich mit offenen Augen und dann unter herabgelassenen Lidern in das Stirnauge schiele, überwinde ich damit die Gezweiung von links und rechts. Ich spüre eine seelische Kraft der Einung. Die Brauen sind dabei notwendig hochgezogen, etwas gerunzelt. Wenn ich über dieses Augenbrauenzentrum hinter der Stirne die Kraft des strömenden Gewahrseins in die Halbkugel Kopf einfließen lasse, weitet sich der innere Himmel in den unendlichen Raum, und wenn das Bewusstsein sich zur Gänze dieser Allheit anvertraut, kann die Erfahrung wohl zur Großen Erfahrung werden.

Wilhelmine Keyserling
Das Nichts im Etwas · 1984
Mystik der Wassermannzeit
© 1998- Schule des Rades
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