Schule des Rades

Arnold Keyserling

Die sechste Schule der Weisheit

3. Anamnese

Bewusstsein der Zahl

Für Pythagoras war das Zahlenkreuz des Rades Chi, also die Entstehung der Rechnungsarten. Wir haben als Rahmen der Vorstellung fünf Punkte in Entsprechung zu den fünf Fingern der Hand.

1 Punkt, nullte Dimension, Ort des Zählens, natürliche Zahlen.

2 Punkte, räumlich Linie und zeitlich Zukunft, Addition und Subtraktion, die ganzen Zahlen.

3 Punkte, zweite Dimension, räumlich Fläche und zeitlich Gegenwart oder Umlauf, Division und Multiplikation, rationale Zahlen.

4 Punkte, räumlich Kubus und zeitlich Vergangenheit oder Kugel, Proportion und Funktion, die reellen Zahlen.

5 Punkte, vierte Dimension, das energetische Kontinuum, komplexe Zahlen, Iteration und Kombinatorik. Seine Mitte ist der Zeitpunkt, der Augenblick der nullten Dimension, also das Subjekt.

D i m e n s i o n s k r e i s

Betrachten wir Yang und Yin, Tao und Te aus der Sicht der Mathematik, so begreifen wir, was Chi eigentlich ist: die Fähigkeit der Selbstorganisation des Subjekts aus der Mitte der Erde.

Das Gewahrsein aus dem Punkt der Null schafft den Kosmos. Das Wollen aus dem Westpunkt, die Iteration und Kombination lässt sich als Ergänzung darstellen, die aus dem Urbild der imaginären und komplexen Zahlen entsteht. Die Achse der Schwerkraft in der Tafel der Multiplikation und die Diagonale des Rades ¹/₁ der Division wird zur Erfahrung aller abzählbaren Mengen. Zu ihr im Gegensatz stehen die irrationalen Zahlen mit W u r z e l -1.

Was ist nun W u r z e l -1? Folgende Formel zeigt es: W u r z e l -1 + 1 = 0. Die Wurzel aus −1 ist natürlich 1. Aber Wurzel als reelle Zahl bedeutet nicht einen statischen Wert, sondern eine Bewegung, einen Vektor. Multipliziert man sie viermal, dann kehrt sie zum Urwert zurück.

W u r z e l -1

Vom Nullpunkt des pythagoräischen Chi aus entsteht der Kosmos mit den vier Dimensionen, veranschaulicht im Rad. Das göttliche Subjekt teilt sich in zwei Wesen, im Osten und Westen: einerseits die nullte Dimension als Uryang, andererseits die vierte Dimension als Uryin mit der Iteration.

Benoît Mandelbrot erklärt: die Natur ist zwar auf Zahlen aufgebaut, aber nicht auf den euklidischen, sondern den fraktalen. Kein Berg ist ein Kegel, keine Wolke eine Kugel, kein Baum eine Pyramide aber alle Formen der Natur entstehen durch Iteration einer ursprünglichen Formel. Da das (Grundgesetz aller Selbstorganisation die Oktave ist, also die Identität der Verdoppelung, ist der Urwert der Iteration die Formel Mandelbrots für das Apfelmännchen:

ZZ + c

Das Ergebnis wird wieder beim ersten Z eingespeist und so entstehen die fraktalen Zahlen zwischen den Dimensionen 0 und 1,1 und 2,2 und 3 als reelle Zahlen. Durch vier Schritte von Bifurkationen bleiben sie rational, ab der fünften Bifurkation werden sie chaotisch.

B i f u r k a t i o n

Fraktal bedeutet selbstähnliche Iteration. Ihr Urbild ist die musikalische Oktave; Verdoppelung oder Halbierung von Maß oder Schwingung ergeben den gleichen Ton. Vom genetischen Code aus gesehen äußert sich die Kraft der Selbstorganisation als Wachstum und Vermehrung, DNS und RNS. Mathematisch ist der seltsame Attraktor Träger des Subjekts, der immer neue Zwischenwerte — fraktal — in der Reihenfolge der Ziffern des Vektors schafft.

Diesen Zahlen wohnt die Tendenz auf eine abzählbare Zahl, also eine der drei Dimensionen inne. Der seltsame Attraktor vereint die vierte und nullte Dimension, die Synthese von Möglichkeit und Wirklichkeit. Linien, Flächen und Körper gibt es nicht wirklich, sondern nur punkthafte Subjekte mit ihrer Beziehungsfähigkeit. So sind die Attraktoren aus der Zeit geboren, doch der Ursprung des seltsamen Attraktors ist im Raum.

F i x p u n k t
Fixpunktattraktor
G r e n z z y k l u s
Grenzzyklusattraktor
T o r u s
Torusattraktor
L o r e n z
seltsamer Attraktor

Die Werte zwischen 0 und 1 erzeugt der Fixpunkt-Attraktor, zwischen 1 und 2 der Grenzzyklus-Attraktor, zwischen 2 und 3 der Torus-Attraktor. Alle werden gesteuert aus dem seltsamen Attraktor. Man schafft einen Raum um sich herum, der aus der leeren Mitte gesteuert ist.

So sind die Attraktoren, die aus der imaginären Zahl W u r z e l -1 erzeugt werden, geistige Zeitbahnen, die potentiell bestehen und durch ein entscheidendes Wesen aktiviert werden. Dies ist auch die richtige Erklärung der Astrologie. Die Zeitrhythmen können als Wirkbahnen eingesetzt werden, sobald die innere Leere der Erdmitte als Urgrund in der Meditation angepeilt wird.

Nun zur lebendigen Erfahrung. Das Chi ist gleichsam eine Tastaura. Wie man den stofflich ausgerichteten Tastsinn durch Stöcke verlängern kann, so kann man auch der Energie bewusst werden und sie dadurch beherrschen. Die Übungen des Qigong zeigen die Kraft der Raumrichtungen; hinten herauf Yang, vorne hinunter Yin, rechts Yin und links Yang, heben Yang und senken Yin. Das Gewahrsein verlegt das Subjekt aus dem Kopfdenken der sprachlichen Vorstellung in den Unterbauch, also das Kraftfeld, die Bewegungsmitte. Dieses darf nicht materiell, sondern nur energetisch gelenkt werden, ist nicht kosmisch, sondern chaotisch zu begreifen.

Die Zahlen heben in der Mitte des pythagoräischen Kreuzes, also im Nullpunkt des kosmischen Chi an. Sie existieren virtuell, gleich den Tönen. Sie werden aktuell indem man sie wählt, wobei alle Zahlen emblematisch auf die neun Ziffern zurückzuführen sind. Die Quersumme, die theosophische Addition ist kein Aberglaube, sondern ein Erfassen der Ziffern als Schöpfungsprinzip, als Entwurf zum Handeln. So wäre bei Beherrschung des Chi in seinen beiden Aspekten, dem geometrischen Urkreuz und der Bewegung der Iteration durch ihre acht Gabelungen all das theoretisch möglich, was in Mythen und Märchen als Wunderkräfte bezeichnet wurde: geistige Heilung, Fernwirkung, die Siddhis des Yoga. Punkthaft sind wir auf die Erde bezogen, energetisch sind wir Teil des All, und zwischen diesen beiden entfalten wir unser Wesen.

Das Rad zeigt die Begriffe, innerhalb derer sich Chi als Urlicht und Urkraft vereinen kann. Chi ist das Kontinuum des Raumes der vierten Dimension. Diese ist also nicht Zeit wie bei Einstein, sondern die eigentliche Wirklichkeit, in welcher die Zeit mit ihren drei Dimensionen, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft die Identität schafft in der Dauer, deren Subjekt der Augenblick der nullten Dimension ist.

Nehmen wir nun das Yin-Yang-Zeichen des Tai Chi, welches in sich als einzige Kurve sowohl halbiert als auch verdoppelt werden kann, also die Fraktalität veranschaulicht.

Y i n · Y a n g

Ich ist im Osten, der Zugang zu den Zahlen und zum Kosmos in Diesseits und Jenseits. Du ist im Westen, Zugang zu der Iteration und Kombinatorik des Wollens. Die Zahl schafft das Bleibende, die Iteration den Wandel. Wer Chi übt, ist geistig im Westen, also in der Dämmerung, wo Tag und Nacht im Gleichgewicht sind. Er empfängt den Himmel als Zeitgeist, als Potentialität des Handelns aus dem Osten. Die Zeit ist Träger möglicher Identität, der Raum ist kosmische Wirklichkeit. Die Kraft, die Osten und Westen, Ichbezogenheit und Weltbezogenheit verbindet, ruht im leeren Selbst in der Mitte, also in der Mitte der Erde. Die Sonne versinnbildlicht die Aufmerksamkeit, der Mond den Wechsel von Sinn zu Sinn. Doch die Mitte der Erde, wo die Drehung virtuell zum Stillstand kommt ist der Born der Kraft der Selbstorganisation. Aus dem Westen setzt sie an, muss aber in der Ruhe der Erdmitte ihre Wurzel finden. So wird das Gemüt als der Yin-Yang-Kreis durch die Einstellung auf die Mitte in der Urkraft verankert und der Bewusstseinskreis, buddhistisch das Bhava Chakra und germanisch die Midgardschlange durchbrochen. Die Sonne im Süden ist nur Tag, der Mond im Norden ist Tag und Nacht, Leere und Fülle und vierfache Gliederung. So ist Chi die Einstimmung in die Ganzheit der vierten Dimension durch Teilhabe an der nullten. Betrachten wir die vier kosmischen Punkte, so haben sie folgende Bedeutung:

  • Osten ist Gewahrsein, bewusste Teilhabe an den Einfällen des Zeitgeistes.
  • Im Westen ist Wollen, das die Aufmerksamkeit einsetzt.
  • Die Aufmerksamkeit hat ihre Wurzel in der Sonne als der Strahlfähigkeit der Seele im Süden.
  • Die Evolution, die Schaffung des Gedächtnisses und das Wachstum des Wesens, hat ihren Schwerpunkt im Denken des Nordens. Er weist auf den Polarstern als Zentrum des geistigen Himmels. Die Drehung des Himmels ist auf die Deichsel des Großen Wagens abgestimmt, wie das Geheimnis der Goldenen Blüte lehrt.

Der Norden bedeutet verstehen, Erkenntnis, Lenken der Aufmerksamkeit. Solange das Bewusstsein im Kreis gefangen, ist bis zur dritten Dimension und die Grenze der Haut um den Körper als Vorstellungsrahmen nimmt, kann man weder in die Erdmitte noch in die Unendlichkeit der acht Richtungen schweifen. So muss man einerseits im Yin die Achse der Schwerkraft in die Erdmitte verlängern und gleichzeitig den Polarstern als Tor zur Neuen Erde, zum Paradies anpeilen.

Wir leben im bestehenden Kosmos, in der körperlichen Bewusstheit, können aber als zweite Geburt das Ich ins Gewahrsein, also den ewigen Osten versetzen. Osten und Westen sind Bewegung, man muss sich in sie einstimmen. Durch bewusste Lenkung des Kraftstroms verlegt man die Teilhabe in die Erdmitte. Körperlich sammelt man das Chi aus der Erdmitte im Hara, dem Atmungszentrum im Unterbauch, und geistig das Licht der Sonne und des Mondes in den Augen. Die Vereinigung im Fokus, bezogen auf die Leere des Sehzentrums ermöglicht die Richtung auf den Punkt und damit auf das Wesen jeder Erscheinung.

Die vier kardinalen Richtungen ermöglichen die Bestimmung der vier kosmischen Kräfte:

  • starke Wechselwirkungen im Osten,
  • schwache Wechselwirkungen im Westen,
  • Elektromagnetismus des Lichts im Süden,
  • und Schwerkraft im Norden.

Die vier Attraktoren haben ihren Schwerpunkt in den Zwischenrichtungen:

  • der Seltsame Attraktor im Nordwesten, im Tierkreis auf 15° Löwe,
  • der Grenzzyklus-Attraktor mit dem kollektiven Gedächtnis im Südosten auf 15° Wassermann,
  • der Torus-Attraktor mit der Vielfalt der Rhythmen und Erscheinungen auf 15° Stier im Nordosten
  • und der Fixpunkt-Attraktor im Südwesten auf 15° Skorpion, als Beweggrund der Körperlichkeit und Zugang zur nachtodlichen Energiequelle.

A t t r a k t o r e n

Die Energien sind die Grundlage der Chakras, die den physiologischen und mentalen Körper, Sonne und Mond durch Erdung verbinden.

Ihre Ordnung ist die Klaviatur des Gewahrseins zur Bildung des Wesens.


mental Chakras physiologisch

Gewahrsein
7. sprechen/schreiben Geist Großhirn
6. lesen/deuten Seele limbisches System
5. tasten Körper Stammhirn
4. hören wollen Kreislauf
3. schmecken fühlen Stoffwechsel
2. riechen denken Atmung
1. sehen empfinden Sinneskoordinaten
Hierzu kommen noch drei weitere Energiefelder:
8. lernen/lehren Kraftfeld
9. gehorchen/führen Lichtfeld
10. entschließen/entscheiden Wortfeld

Knie 810
Hände
D r e i e c k
9 Füße

Im Knien des Ritterschlags ist das eine Knie zur Erde, das andere nach oben gerichtet. Im Schreiten des Weges im Führen und Gehorchen ist die Gemeinsamkeit mit den Wesen des Jenseits bereits Teil der Ganzheit, und im Höheren Selbst spiegelt sich die erreichte Integration in den Händen. Die letzte Dreiheit, in der Himmelsleiter als Auge Gottes dargestellt, verwendet das Chi überpersönlich für das Werk der Erde.

Die zehn Prinzipien sind in den Händen verkörpert. Die linke ist die Mondhand, die rechte die Sonnenhand. Die Sinne sind die Finger in ihrer dreifachen Bedeutung, den Sinnen, den Funktionen und Bereichen und den physiologischen Entsprechungen. Die Felder der Handflächen sind links der Kosmos mit den Bereichen Körper, Seele, Geist und Gewahrsein, rechts die Funktionen empfinden, denken, fühlen und wollen als Linien. In der linken Hand erscheint die Vergangenheit, in der rechten die Potentialität der Zukunft. Die Mitte der linken Hand ist das Selbst, der rechten das Ich. Links ist Kosmos, rechts ist Chaos.

Der Mensch hat seine Aktivität in den Funktionen, sein Wachstum in den Bereichen. Die Attraktoren in ihrem Zusammenhang verlangen ihre Vereinigung:

links
KOSMOS
K o s m o s
rechts
CHAOS
C h a o s
  • Die Lebenslinie vereint Körper und empfinden, im Torus-Attraktor (links und rechts).
  • Die Kopflinie ist Seele und denken und spiegelt den Grenzzyklus-Attraktor.
  • Die Herzlinie vereint Geist und fühlen im Fixpunkt-Attraktor,
  • und die Schicksalslinie ist links das Gewahrsein, rechts das Wollen.

Linke Hand: Tierkreis, rechte: Häuserkreis

In der linken Hand ist im Osten das Feuer, Symbol des Gewahrseins. Im Westen ist das Mineral. Feuer und Mineral sind Mächte des Kosmos, ebenso Pflanze und Tier im Süden und Norden. Die Pflanzen leben vom Elektromagnetismus, die Tiere beherrschen über die Muskeln die Schwerkraft.

l i n k e - H a n dr e c h t e - H a n d

Das Feuer ist mit dem Urlicht der Ursprung der starken Wechselwirkungen, und das Mineral wächst gemäß den schwachen Wechselwirkungen.

Der Fixpunkt-Attraktor in der rechten Hand eröffnet die Macht der Naturgeister, die als Traumgestalten die Stimmung des Menschen lenken. Der Grenzzyklus-Attraktor bestimmt die Ahnen, die im Werk der Erde zugänglich werden, sobald man die eigene Leistung auf die Ahnen zurückführen kann. Die Musen bestimmen die Inspiration, jeder Künstler und Dichter benötigt ihre Hilfe. Die Engel eröffnen als höchste eigene Möglichkeit den eigenen Weg zur Vollendung. Sie helfen dem Menschen seine fraktale Existenz als Einklang von Motivation-Vergangenheit und Intention-Zukunft im Augenblick in der Gegenwart zu vereinen und dadurch kommunikativ zu werden.

Die sechste Schule der Weisheit entsteht wie alle früheren aus einer historischen Notwendigkeit. Das Kennzeichen des sechsten Zeitalters der Wassermannzeit ist Körper-denken, Wirtschaft und Technologie im Rahmen der Menschheit. Das Symbol des Wassermann ist die Amphora, die mit dem Wasser des Himmels die Erde befruchtet.

Die Arbeit ist in der Gegenwart dem Sinn entfremdet. Sie dient illusorischen Zielen — Produktionswachstum und Vollbeschäftigung und nicht der Läuterung wie bei den Sufis. Immer mehr Menschen werden arbeitslos, vor allem solche, die die Qualität im Sinne des Handwerks suchten.

Zielgruppe der sechsten Schule sind all jene, die durch die sogenannte Rationalisierung ihre Arbeit verloren haben. Die Maieutiker, die das Wissen der fünf Schulen zusammenfassen, sollen nicht therapeutisch, sondern als Freunde jenen zur Verfügung stehen, die den Sinn im Leben verwirklichen wollen.

Arnold Keyserling
Die sechste Schule der Weisheit · 1994
Pädagogik für eine globale Gesellschaft
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD