Schule des Rades

Arnold Keyserling

Der Uhrmacher

2. Gustav Meyrink

Initiation

Gustav Meyrink Werk ist heute in unverdiente Vergessenheit geraten; zwar ist der Golem in einer Volksausgabe wieder aufgelegt, doch die mindestens ebenso wesentlichen Schriften — Das grüne Gesicht, Der weiße Dominikaner, und Der Engel vom westlichen Fenster — werden als Ausgeburten einer mystischen und eklektischen Phantasie ohne objektiven Wert beurteilt; vor allem von denjenigen Schriftstellern, die behaupten, die historischen esoterischen Traditionen zu kennen und zu interpretieren.

Dieses Urteil könnte gar nicht irriger ausfallen, da es das Wesen der esoterischen Literatur verkennt: Gustav Meyrink war der einzige Schriftsteller, der das esoterische Wissen ohne bewusste Irreführung dargestellt hat — aus der Überlegung heraus, dass es heute gar nicht mehr missverstanden werden kann; wer reif ist, sein Werk zu begreifen, findet in ihm seinen Weg, und wem es innerlich nichts bedeutet, der spürt doch wenigstens die große schriftstellerische Begabung; zumindest aber verbringt er mit der Lektüre angenehme Stunden, wie es die immensen Auflagen beweisen, die das Werk bis Ende der Zwanzigerjahre erlebte.

Jedes der Bücher war einem besonderen traditionellen Weg gewidmet:

  • der Golem dem kabbalistischen,
  • der Engel vom westlichen Fenster dem esoterisch-christlichen,
  • das Grüne Gesicht mit dem Umstellen der Lichter dem mystischen Weg.

Die vielen Erzählungen aus Des deutschen Spießers Wunderhorn zeigten die dämonische Hintergründigkeit des alltäglichen Daseins auf, die kurz nach dem Tode Meyrinks 1932 im deutschen Nationalsozialismus zum Ausbruch kommen sollte. Doch sein eigener gnostischer Weg der alle vier traditionellen Richtungen umfasste ist in der kleinen Schrift des Uhrmachers geschildert.

Diese Novelle wurde, abgesehen von einer zufälligen Aufnahme in einer Prosa-Anthologie in den Zwanzigerjahren, nur einem kleinen Kreis von Interessierten in Prag über Herbert Fritsche nach dem Tode Meyrinks zugänglich gemacht; sie ist längst vergriffen und heute praktisch unbekannt; in keinem Verzeichnis der Schriften ist sie aufgeführt. Ich erhielt durch einen seltsamen Zufall eine Abschrift des vielleicht letzten in Prag befindlichen Exemplars dieser Ausgabe.

Im Zeichen der Zeit eines Papstes, der sich das Wappen des weißen Dominikaners — flos florum — zum Sinnspruch erkoren hat, die entsprechende Aufgabe der Vereinigung der christlichen Bekenntnisse anstrebt, und den Kontakt mit den anderen Religionen und den freien esoterischen Gemeinschaften pflegen will, scheint es angebracht, diese Schrift der Vergessenheit zu entreißen und die ihr zugrunde liegende Metaphysik zu klären.

Meyrink gehörte vor der Jahrhundertwende zusammen mit dem tschechischen Mystiker Weinfurter einem Kreise in Prag zu, der sich die experimentelle Ergründung des Wahrheitsgehalts der esoterischen Traditionen zur Aufgabe gestellt hatte. Weinfurter schildert, wie ab eines gewissen Stadiums der Übungen die Gruppe eine echte geistige Führung aus der Wiener christlichen Esoterik erhielt. Während aber Weinfurter und seine Kollegen fortan sich dem persönlichen Heilsweg zuwandten, erblickte Gustav Meyrink sein Ziel darin, das Wissen in möglichst zugänglicher Form vor der immanenten Weltkatastrophe — wie er sie am Ende des Grünen Gesichts vorausahnte — darzustellen. Dies bringt uns nun aber gleich zur Kernfrage seines Werkes: Was bedeutet esoterisches Wissen im Unterschied zum historisch wissenschaftlichen? Wie können wir echte Tradition von Scharlatanerie unterscheiden, die sich immer in ihrem Gewand darbietet?

Die historisch wissenschaftliche Methode ist hierfür ungeeignet; keine einzige der esoterischen Schriften war unverschlüsselt; sie sind entweder bewusst unvollständig, wie etwa der Timaios des Platon, oder aber absichtlich irreführend, wie die Lebensbeschreibung des Pythagoras von Jamblichos, der an anderer Stelle sehr wohl das echte pythagoräische Wissen dargestellt hat, oder auch die neuzeitlichen alchemistischen Schriften, in denen der Kern hinter der Symbolik fast völlig verschwindet. Die historisch kritische Methode versucht fälschlich einen Weg objektiv zu ergründen, der immer an die subjektive Anstrengung des einzelnen gebunden bleiben muss: In der Gnosis ist nicht die wissenschaftliche Wahrheit, das übertragbare Wissen das Ziel, sondern eine Wandlung des Bewusstseins von der Trieb- und Weltverhaftung zur persönlichen Erleuchtung. Diese lässt sich nicht wissenschaftlich erlernen, sondern nur existentiell erleben. Wird sie erlebt, so stellt sie allemal eine Begnadung dar; sie wird als unverdientes Glück empfunden.

Der Weg zur Erleuchtung ist nicht wissenschaftlich zu erläutern — er ist nur existentiell zu begehen. Dennoch hat er einen objektiven Untergrund: er kennt eine bestimmte Anzahl von Schritten und von Stufen; zwölf Schritte oder Abschnitte in Entsprechung zum Jahreslauf der Sonne im Tierkreis gilt es zu absolvieren, bis der unbekannte Eingang zum Heiligtum gefunden wird und der Mensch sich aus dem falschen Wissen befreit hat; und sieben Stufen hat der Aufstieg vom Nichtwissen zum Können, die eigentliche Initiation, die sich aber nicht in der Welt, sondern außerhalb von Raum und Zeit vollzieht: es gibt nur einen echten Meister des Weges, den Weltenbaumeister oder, in astrologischer Symbolik, den kosmischen Uhrmacher, der jedem Menschen eine innere Uhr als seine höchste Bestimmung eingeprägt hat.

Die Gliederung des Weges und der Stufen ist seit altersher überliefert; in jeder Tradition sind sie in anderer Weise symbolisch verschlüsselt. Hier kommen wir nun zum Kernsatz der Esoterik: nur der einzelne Mensch selbst kann die Schritte und Stufen in seinem persönlichen Streben zum Leben erwecken; als Kategorien sind sie tot, ja absurd. Der Weg, den er dabei beschreitet, bleibt sein persönlicher Pfad zum Heil, seine Dichtung, die sich auf Grund seiner Anlage und seines Schicksals in der besonderen ihm gemäßen Form entfalten wird.

Der Uhrmacher schildert den persönlichen Weg, die Initiation Gustav Meyrinks. Wenn er aber persönlich bleibt, was hätte es dann für einen Sinn, diesen Weg zu erläutern und zu erklären?

Der Weg ist bei jedem verschieden, aber die Schritte und die Stufen sind die gleichen. Zwar stellt sich deren Inhalt verschieden dar; dass sie aber zu begehen sind, und wie sie lebendig aufeinander folgen — diese Darstellung kann einem Leser helfen, sich über seinen persönlichen Weg und seine Stufen klar zu werden. Sie kann ihm also in analoger Weise den Schlüssel zeigen, wo und in welcher Weise sein eigener Weg im Trubel der Wirklichkeit anhebt.

Arnold Keyserling
Der Uhrmacher · 1988
Von Gustav Meyrinck
© 1998- Schule des Rades
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